Der Klavierstimmer
durften.
Ich sah zu Frédéric hinüber. Er rührte sich nicht. Er kennt jeden Takt der Oper, dachte ich, er wird schon wissen, warum er noch wartet. Der Widerschein eines Scheinwerfers fiel auf sein Gesicht. Es war alt, müde und eingefallen, die geschlossenen Augen lagen tief in den Höhlen. Alles Leben schien aus ihm gewichen. Auf einmal, es war wie ein plötzliches Erwachen, wußte ich: Er hat nicht mehr die Kraft, es zu tun, sie haben ihn gebrochen, jetzt haben sie ihm auch das noch genommen.»
Maman drehte einen erloschenen Zigarettenstummel zwischen den Fingern. Es war eine schrecklich verlorene Bewegung, mir kam es vor, als habe sie keinen Urheber, und manchmal sogar, als fände sie gar nicht wirklich statt. Vorhin hatten die Erinnerungen ihre Züge immer wieder zum Flackern gebracht, eine wachsende Bitterkeit, die sich ihrer selbst indessen nicht ganz sicher zu sein schien, war über das Gesicht gehuscht. All das verschwand in den Minuten, die ihr Schweigen dauerte. Als sie weitersprach, tat sie es mit einem Gesicht, in dem eine große, jedoch vergebliche Anstrengung zu lesen war, mir und auch sich selbst zu erklären, was geschehen war. Die einzelnen Sätze, die sich an keinerlei zeitliche Logik hielten, wurden immer wieder unterbrochen durch lange Pausen. Aber auch sonst waren sie merkwürdig getrennt voneinander, es war, als würden sie an ganz verschiedene Stellen einer großen Tafel geschrieben, so weit voneinander entfernt, daß sie einander in keiner Weise berührten, weder indem sie sich auseinander ergaben, noch dadurch, daß sie sich widersprachen. Die verstreuten Worte offenbarten eine fiebrige Ruhe, in der Maman, in der Zeit hin- und herspringend, dem unverstandenen Geschehen jener Sekunden einzelne kleine Einsichten abtrotzte, ohne daß diese sich zu einem Ganzen zusammengefügt hätten.
«Frédéric leistete keinen Widerstand, als ich in seine Manteltasche griff und die Pistole herauszog. - Bis auf die Bühne, wo er stand, das war weiter als auf dem Schießstand, aber nur ein bißchen. - Ich habe es für Frédéric getan. Er hat uns betrogen, betrogen hat er uns. Das hatte er doch gesagt. Er hat uns um die Zukunft betrogen. Er hatte es gesagt. - Sie banden ihm ein Tuch um die Augen, ich mußte mich beeilen. - Der plötzliche Konkurs seines Vaters und die hereinbrechende Armut, la povertà, sai, la povertà, wie oft habe ich das von ihm gehört. Geld zu haben oder nicht zu haben sei wie ein Naturereignis, unberechenbar, das war seither sein Gefühl. Sein Gesicht war anders als sonst, wenn er davon sprach, ohne Wichtigtuerei, émouvant. - Ich hatte keine Zeit, die Soldaten griffen nach dem Gewehr. - Das Geräusch des Entsicherns, ich habe es nicht gehört, auch an die Bewegung erinnere ich mich nicht, aber sie werden meine Fingerabdrücke auf dem Lauf finden, sie müssen sie finden. - Sie fesselten ihm die Hände auf dem Rücken. - La miseria, sai, la miseria, aber jetzt hatte ich keine Zeit. - Du kleine Möchte-gern-Erpresserin. - All der leere Raum um mich, als ich anlegte, soviel leerer Raum, es war unheimlich, den Arm in den leeren Raum hinauszustrecken. - Er hat uns betrogen, betrogen hat er uns. Das hatte er doch gesagt. Er hat uns um die Zukunft betrogen. Er hatte es gesagt. - Die Soldaten zielten, als ich soweit war, es war keine Zeit mehr, ich mußte beim erstenmal treffen, der Abzug ging härter als erwartet. - Es krachte keine Salve, die Soldaten ließen mich im Stich. - Er sank zu Boden, den Mund weit geöffnet. - Frédéric ist mir nicht in den Arm gefallen, wäre er mir nur in den Arm gefallen. Eben noch hatte er so bleich und still dagesessen, so abwesend …und nun stand er vor mir, nahm mir die Waffe aus der Hand und drückte mich auf den Sitz. - Sie kamen, es war ein Getrampel von Schritten, ein lautes, aufdringliches Getrampel, und dann faßten sie ihn an den Armen und führten ihn ab.»
Maman war am Ende ihrer Geschichte angekommen. Jetzt lehnte sie sich zurück und glitt zur Seite. Zuerst schien es, als würden sich ihre Züge nur entspannen, doch die Entspannung hörte sozusagen nicht auf, die Wangen und Augen sanken immer weiter nach innen, und eine Vorahnung des Todes erschien auf dem weißen, knochigen Gesicht.
Ich legte sie auf dem Sofa hin und breitete eine Decke über sie.
«Ich möchte jetzt schlafen», sagte sie nach einer Weile.
Ich ging zur Tür, vorbei am Sekretär und der Schreibplatte mit den beiden Umschlägen, von denen ich jetzt ganz sicher wußte, was
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