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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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sondern überhaupt, eine aberwitzige Idee, einen Menschen einfach zu erschießen, dazu noch auf der Bühne, melodramatischer Kitsch, mörderischer Kitsch, in was hatten wir uns da hineingesteigert, das war nur möglich gewesen, weil wir den Menschen nicht leibhaftig vor uns gehabt hatten, sondern nur ein Phantasma, ein Trugbild des Hasses, aber jetzt war es ganz anders, jetzt stand der wirkliche Mann dort und sang in eine atemlose Stille hinein.
    Der Pausenvorhang fiel, tosender Beifall brach los. Cavaradossi, Tosca und Scarpia traten vor den Vorhang. Die beiden Männer küßten Claire Taillard die Hände. Antonio verbeugte sich, vornehm und knapp, das habe ich an ihm immer gemocht. Er begann damit in der anderen Richtung und bewegte sich langsam zu uns hin, die Augen abwechselnd ins Parkett und auf die Ränge gerichtet. Das glänzende, graumelierte Haar wippte, und von Zeit zu Zeit fuhr er sich mit der Hand über den Kopf, wie um es zu beruhigen. Zur gegenüberliegenden Loge, so schien mir, hatte er vorhin nicht hinaufgeblickt, er würde wahrscheinlich auch unsere nicht beachten. Doch dann geschah es doch, und unsere Blicke begegneten sich. Wenn es denn wirklich eine Begegnung war und nicht nur ein Blick, der den meinen ohne Erkennen streifte. Wissen konnte ich es nicht, denn ich zuckte unwillkürlich aus seinem Blickfeld zurück. Als ich mich wieder vorwagte, war er bereits verschwunden, und die Leute erhoben sich.
    Wir blieben sitzen. Es war das längste und quälendste Warten meines Lebens. Hatte Frédéric etwas Ähnliches gedacht wie ich? Er mußte sich inzwischen bewegt haben, denn seine Beine waren übereinandergeschlagen, und die Hand lag nicht mehr auf der Manteltasche. Jetzt aber saß er wieder regungslos da, die Augen geschlossen. Es war unmöglich, ihn anzusprechen. Er würde noch einmal an die zahllosen Arien denken, die er für Antonio geschrieben hatte, damit er dort unten stünde und sie sänge, mit derselben verzaubernden Stimme, mit der er jetzt Puccini sang. An den Brief aus Monaco würde er denken, an den fürstlichen Briefkopf, den er später zu Staub zerstampfte. Und auch Erinnerungen ans Heim würden vor ihm auftauchen, Bilder von hohnlachenden Lehrern und Mitschülern, vom Arrestraum und den Momenten, wo er dem verhaßten Sportlehrer beim Völkerball als letzter gegenüberstand, mit sicheren Händen, die auch den schärfsten Ball ruhig abfingen, alles unter den Augen der anderen, die hofften, er werde verlieren, dieses eine Mal nur, damit sie ihn ein bißchen weniger fürchten müßten. All dies würde er im Inneren ein letztes Mal durchgehen, bevor er dann aufstand, um sich, sichtbar für alle Welt, zu rächen für die lange Reihe von Demütigungen, die er ertragen hatte, Jahr für Jahr. Er hatte dagegen angekämpft mit Tausenden von Notenblättern, jedesmal hatte er sich hingesetzt und trotzdem weitergemacht, immer wieder, bis der Mann hinter dem Vorhang, der sich jetzt in seiner Garderobe ausruhte, der Mann, den er verehrt, ja geliebt hatte - bis dieser Mann sein ver ächtliches Spiel mit ihm trieb. Nein, es war unmöglich, vollkommen ausgeschlossen, ihn zu stören und zu bitten, es nicht zu tun. Er war … er kam mir unantastbar vor in seiner Versunkenheit, in der er Anlauf nahm zu seiner Tat, die auch unsere Tat sein sollte.
    Nach einer Ewigkeit gingen die Lichter wieder aus, Frédéric hatte die Augen kein einziges Mal geöffnet. In der Morgendämmerung, einen letzten Brief an Tosca schreibend, erwartete Cavaradossi auf der Plattform der Engelsburg seine Exekution. E lucevan le stelle. Als er es damals im Genfer Hotelzimmer sang, rief der Nachtportier an, jemand hatte sich beschwert. Der Alte habe ganz verschüchtert geklungen, lachte Antonio, und ich lachte mit, obwohl mir das Verächtliche in seinen Worten nicht gefallen hatte. Da kannte ich das ganze Ausmaß seiner Arroganz noch nicht.
    Jetzt erschien Tosca, zeigte ihm den Passierschein und berichtete von ihrem Mord an Scarpia. O dolci mani . Er pflegte es in meine Hände hinein zu singen, ich spürte seinen Atem auf den Handflächen, und am Schluß vergrub er das Gesicht darin. Jetzt nahmen er und Tosca in Erwartung der nahen Freiheit zum Schein Abschied. Amaro sol per te m’era il morire. Auch jetzt sangen sie Mund an Mund. Doch nach wenigen Takten war es für mich, als verschwänden die Töne in weite Ferne, und was nun kam, war eingehüllt in tonlose Aufmerksamkeit, es zählten nur noch Augen und Hände, die nicht irren

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