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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Bad stießen wir zusammen, entschuldigten uns überschwenglich und förmlich zugleich, und dann faßten wir uns aus lauter Ratlosigkeit an beiden Händen, es muß ausgesehen haben wie bei Kindern, die einen Reigen beginnen. Frédéric ging nicht ins Geschäft. Er sprach nicht darüber, sondern blieb einfach über die Zeit hinaus am Frühstückstisch sitzen. Die Stunden verrannen quälend langsam. Jeder blieb in seinem Zimmer. Ich legte die Sachen bereit, die ich anziehen wollte. Dreimal tauschte ich aus. Noch nie ist mir eine Tätigkeit so sinnlos erschienen, und manchmal mutete mich der Gedanke an mein Aussehen an diesem Abend obszön an. Das Kleid, das ich schließlich anziehen sollte, schleuderte ich zu Boden. Nachher holte ich das Bügeleisen. Ich verbot mir, an das Geräusch beim Entsichern der Waffe zu denken.
    Auf einmal (so unvermittelt, als halte mich die Zeit mit einem Taschenspielertrick zum Narren) war es nach sechs, und ich hatte Angst, wir würden zu spät kommen. Vor geschlossener Tür, unter den Augen des Personals warten müssen! An diesem Abend! Als ich Frédérics Zimmer betrat, saß er im Smoking vor den offenen Schubladen des Schreibtischs und ordnete seine Sachen. Es war der Smoking, den wir für Monte Carlo gekauft hatten. Weil der schwedische Preisträger einen getragen hatte. Nur deshalb. Seit der Anprobe im Geschäft hatte ich ihn nie wieder darin gesehen.
    ‹Aber doch nicht der Smoking!› sagte ich. Ich weiß nicht, warum ich es sagte. Oder doch: Es sah lächerlich aus, besonders das seidenbesetzte Revers und die Biesen am Hemd; einfach lächerlich. Wie hinter der Bühne, wenn man die Sänger, die man privat kennt, in den bombastischen Gewändern sieht.
    ‹Doch, natürlich›, sagte Frédéric, ‹gerade jetzt!›!>
    Wir verstanden uns nicht. Eigentlich war es ja nicht wichtig, doch es kam mir vor, als tue sich zwischen uns ein Abgrund der Verständnislosigkeit auf. In einer Stunde würden wir zusammen das Haus verlassen und es nie wieder gemeinsam betreten. Um den Plan durchzuführen, durch den wir aneinandergekettet waren. Und wir verstanden uns nicht. Auch später, im entscheidenden Moment, als es geschehen sollte, verstanden wir uns nicht. Das war das Schlimmste. Schlimmer als alles andere.»
    Langsam - so langsam, daß ich noch sehen konnte, wie ihre Züge zerfielen - schlug Maman die Hände vors Gesicht. (Und es lag nicht die Spur von Theatralik darin. Du irrst: Nicht alles an Mamans Gestik war berechnend.) Nach einer Weile wurde sie von einem trockenen, holprigen Schluchzen geschüttelt. Das Holprige daran - nichts hätte ihre Hilflosigkeit und das Erlöschen jeder Hoffnung besser zum Ausdruck bringen können. Als es langsam sanfter wurde und schließlich verebbte, löste Maman die Hände behutsam vom Gesicht, und nun fügten sich ihre Züge zu einem Ausdruck großer Einsamkeit, oder vielleicht sollte ich besser sagen: Verlassenheit. Es war der Ausdruck, der den Rest ihres Berichts begleitete, eines Berichts, der ahnen ließ, wie wenig die beiden Menschen, die unsere Eltern waren, voneinander gewußt haben.
    «Ich habe nicht gesehen, wie Frédéric die Waffe einsteckte. Doch als er sich zur Haustür drehte um abzuschließen, schlug die Manteltasche schwer gegen das Holz, es gab einen dumpfen Schlag. Es war die Tasche, die sich im Taxi mit meiner Manteltasche berührte.
    ‹Ist di Malfitano nicht großartig?› sagte die Fahrerin, als wir ihr das Ziel nannten, ‹ich war in der gestrigen Aufführung.›
    Aus dem Autoradio kamen Opernarien. Es war nicht seine Stimme. Trotzdem war es das letzte, was wir in diesem Augenblick hören wollten. Aber keiner von uns traute sich, etwas zu sagen. Als lähmte uns die Schuld schon im voraus.
    ‹Ihren nicht?› fragte die Garderobiere und deutete auf Frédérics Mantel, den er sich über den Arm gelegt hatte.
    ‹Nein›, sagte Frédéric, ‹meinen behalte ich.›
    Es lag eine solche Festigkeit des Willens in seiner Stimme, ich wußte nicht, wie ich ihn jetzt noch hätte aufhalten können. Vorher, beim Betreten der Oper, hatte ich mich umgedreht und zurückgeblickt, hinaus in die Nacht und die Lichter. Frédéric hatte sehr bestimmt dagestanden, als er auf mich wartete. Nicht ungeduldig, nur bestimmt, den Kopf leicht gesenkt. Diese Bestimmtheit hatte mich daran gehindert zu sagen, was ich dachte: Laß uns wieder hinausgehen, nach Hause.
    Nun standen wir vorn in der Loge, über uns Scheinwerfer und ein Gewirr von Kabeln. Wir blieben länger

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