Der Klavierstimmer
stehen, als Leute sonst in der Oper stehen bleiben, bevor sie sich setzen. In Richtung Bühne blickend, muß Frédéric dasselbe gedacht haben wie ich: Es ist zu machen. Bis es dunkel wurde und der Applaus für den Dirigenten einsetzte, sahen wir uns nur ein einziges Mal an. Als wir es taten, war es schrecklich, ich weiß nicht zu sagen warum. Vielleicht, weil wir nach dem passenden Gesichtsausdruck suchten, ihn von innen her sozusagen zu ertasten versuchten, doch es gab ihn nicht, es hätte ein ganz neuer Gesichtsausdruck und eine ganz neue Art von Blick sein müssen, die wir nicht zur Verfügung hatten, unsere Gesichter standen vor einer unlösbaren Aufgabe und sahen daher vollständig leer aus, leer und starr, so daß wir uns erschrocken abwandten.
Frédéric hatte den Mantel auf dem Schoß und die Hand auf der Tasche mit der Waffe. Bis zur Pause hat er sich nicht ein einziges Mal bewegt, er saß neben mir als eine reglose Gestalt im Dunkel, den Blick unverwandt auf die Bühne gerichtet, ein Mann aus … comment dire …»
«Aus stummem Stein», sagte ich. «Le mutisme de pierre.»
Ich verfluchte mich, noch bevor das letzte Wort heraus war. Wenn es jemals einen Augenblick gegeben hatte, in dem ich um gar keinen Preis einen Satz von ihr hätte vollenden dürfen - das war er. Maman verlor das Gleichgewicht, über der Nasenwurzel bildete sich die Falte, und ihre Züge gerieten in Unordnung. Plötzlich schien es ihr überall weh zu tun, mit gequälten Bewegungen verlagerte sie ihr Gewicht, und die Asche der Zigarette fiel aufs Sofa.
«Pierre», sagte sie gedankenverloren, fast wie ein Automat, «oui, c’était son nom.»
Ich biß auf die Lippen, daß es blutete. (Das ist die Antwort auf deine Frage nach der Wunde, einige Stunden später.) Nie mehr würde ich einen Satz vollenden, der nicht meiner war. Nie mehr in meinem ganzen Leben. Ich atmete auf, als ich sah, daß mein Einwurf Mamans Konzentration nur an der Oberfläche gestört und daß sich ihr Gesicht bereits wieder geschlossen hatte, wie es auch sonst zu geschehen pflegte, wenn sie in der Vergangenheit verschwand.
«Als die Lichter ausgingen - genau in jenem Augenblick -, spürte ich: Das war das Ende, das Ende der Zeit, unserer Zeit. Ein letztes Mal würden wir durch die Melodien gleiten, die uns damals zusammengebracht hatten. Danach kam nichts mehr. Nichts, was zählte.
Als Antonio die Bühne betrat, vergaß ich zu atmen. Er stieg in der Kirche aufs Malergerüst und holte das Medaillon mit Toscas Bild hervor. Um in die Tasche zu fassen, mußte er den Malerkittel zurückschlagen, es war die gleiche Bewegung wie damals an der Réception des Ritz . Recondita armonia. Gegenwart und Erinnerung schoben sich übereinander, die Bilder verschmolzen. Ich roch den Staub hinter der Genfer Bühne, wo er mich zum erstenmal geküßt hatte. Als Claire Taillard, die die Tosca sang, in seine Arme sank, fühlte sich meine Brust an wie aus Beton. Sie sangen Mund an Mund, nur der Schleier, den sie vor dem Gesicht trug, trennte die beiden. Wie sehr ich es auch wünschte, es gelang mir nicht wegzusehen.
Als ich wieder zu mir kam, saß ich weit nach vorne gebeugt, die Hände auf der Brüstung der Loge. Ich genierte mich vor Frédéric und richtete mich auf. In diesem Moment wechselte die Beleuchtung, und der Scheinwerfer über uns begann zu arbeiten. Er sandte einen schmalen Lichtkegel in das Dunkel auf der Bühne und traf Antonios Gesicht. Die grellweißen Zähne. Das aufgedunsene Gesicht, gegen das auch die Maskenbildnerin nichts vermocht hatte. Die Tropfen für glänzende Augen; in seiner Garderobe in Genf hatte ich das Fläschchen gesehen, und einmal, als ich allein dort war, hatte ich es verschwinden lassen, ich mochte das künstliche Glitzern nicht, er war dann gar nicht mehr er selbst. In Paris wollte ich ihn höhnisch fragen, ob er sicher sei, noch die alte Stimme zu haben. Der Hohn wäre unbegründet gewesen, er sang wie ein Gott, und einmal mehr war ich überwältigt von der besonderen Mischung aus Schärfe und Wärme, die sein besonderes Timbre ausmachte.
Der Lichtkegel, durch den sich feiner Staub träge hindurchbewegte, hatte schneidend scharfe Ränder. Das würde nachher die Flugbahn der Kugel sein. Ob Frédéric es noch kann, dachte ich, es ist viele Jahre her, er ist aus der Übung. In Gedanken hob ich den Arm und ließ ihn langsam sinken, wie Papa es mich beim Zielen gelehrt hatte. Unmöglich, sagte ich mir, vollkommen unmöglich, und nicht nur technisch,
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