Der Klavierstimmer
mein Vater. Ein Taschendieb und ein Tagedieb. Das war es, was mein Vater Henri war: ein Tagedieb. Ein richtiger Tagedieb.»
Papa berauschte sich an dem Wort Tagedieb , es war, als habe er es gerade erst entdeckt. Ich dachte an das, was er über Worte als reine Klanggebilde gesagt hatte. Auch du kannst das ja: dich an Wörtern berauschen. Aber bei dir ist es etwas ganz anderes als bei Papa.
«Fritz Bärtschi, mein Großvater, war immer dagegen gewesen, daß Odile Kellnerin wurde. Sie wäre besser auf dem Bauernhof geblieben, meinte er. Odile aber, nach der sich - bevor das Unglück mit der Wange passierte - jeder umdrehte, wollte partout in die Stadt. Ihre uneheliche Schwangerschaft, das sei die Strafe, sagte der Bauer, ein bigotter Calvinist, von dem ich die derben Hände habe. Seine Frau Solange dagegen, eine Schönheit aus dem Waadtland, die einen Besseren verdient hätte als den sturen Bauern, unterstützte Odile heimlich in ihrem Wunsch. Mutter taufte mich Fritz aus dem hilflosen Versuch heraus, dem Vater zu Gefallen zu sein, ihn gegenüber dem Kind vielleicht doch noch positiv einzustellen. Es nützte nichts. Der Vater verstieß Odile, es gab nur noch heimliche Treffen mit der Mutter. Deshalb kam ich nach Mutters Tod nicht auf den Bauernhof, obwohl das Jugendamt dazu gedrängt hatte, um das Heim zu vermeiden. Ein tiefes Zerwürfnis trennte von nun an die Großeltern. Sie redeten nicht mehr miteinander. Etwa ein Jahr lang erhielt ich von Solange Freßpakete. Dann starb sie. Kurz vorher besuchte sie mich und gab mir ein dickes Kuvert mit Aufzeichnungen. ‹Vielleicht wirst du das später einmal lesen wollen›, sagte sie. Es war ihre Geschichte, soweit sie mich betraf. Am Mittwoch, bevor Frédéric Delacroix den Smoking anzog, habe ich darin gelesen.»
Es sind etwa zwanzig Seiten, gefüllt mit einer zierlichen, makellosen Handschrift, in der es hier und da an den großen Buchstaben winzige Verzierungen gibt wie in alten Büchern. Die Aufzeichnungen sind an Papa gerichtet, der Ton ist manchmal entschuldigend, dann wieder ermahnend, insgesamt zärtlich, der kleine Fritz muß ihr viel bedeutet haben.
«Ich richte diese Worte an Dich», schrieb sie,«obwohl Du sie jetzt noch nicht verstehen kannst. Ich habe nicht mehr viel Zeit, und ich möchte, daß Du später siehst, daß ich viel an Dich gedacht habe, obwohl ich Dich nicht zu mir nehmen konnte.»Bald kommt sie auf ihre hauptsächliche Sorge zu sprechen: daß Fritz nach Odiles Tod zu einem Eigenbrötler geworden war.«Im Bahnhofsbuffet warst Du doch der Liebling der Leute», schrieb sie,« le petit prince , weil Du die Lieblingsplatte der Gäste in der Musicbox kanntest, Du brauchtest sie nur ein einziges Mal gehört zu haben, sagte Odile. Warum meidest Du im Heim die anderen Kinder? Du seist furchtbar kratzbürstig und abweisend gegen alle, sagen sie. Um dein Bett herum hättest Du sogar einen Paravent aufgestellt. Dein Gedächtnis, sagt Nicole, sei fabelhaft, unglaublich. Leider sei es auch ein Elefantengedächtnis, Du seist schrecklich nachtragend. Manchmal, mein Junge, muß man einfach vergessen, was die anderen gesagt und getan haben, auch wenn es weh tat. Sonst ist man ständig mit seinen schlimmen Erinnerungen beschäftigt, die ja immer mehr werden, und man kommt nicht mehr zum Leben.»Die beiden letzten Sätze hat Papa dick unterstrichen, wer weiß wann.
Für eine Weile konnte ich nicht weiterlesen. Ich mußte hinaus auf die Straße und ging zweimal um den Block. Jetzt, Ende November, ist es in Paris eisig. Ich war versucht, dich anzurufen und dir die Sätze von Solange vorzulesen.
Die Großmutter erklärt dem kleinen Fritz, daß nichts dabei sei, wenn er mit dem Kopf gern hin und her schaukle. Man brauche nicht für alles einen Grund. Das sei genausowenig schlimm wie daß er lieber mit der linken Hand schreibe. Von Nicole wisse sie, daß ein dummer Lehrer ein Wort benutzt habe, das die anderen jetzt hinter ihm herriefen: Echolallie . Es sei ein wichtigtuerisches Wort, sie habe es im Lexikon nachschlagen müssen. Offenbar bezeichneten gewisse Angeber damit die vollkommen harmlose Angewohnheit, eben gehörte Wörter zu wiederholen, wie ein Echo. Ob er noch wisse, wie charmant manche Gäste im Bahnhofsbuffet das gefunden hätten?
Wir haben das Wort aus Papas Mund nie gehört. Jetzt weiß ich, warum er uns verbot, in seiner Gegenwart das Wort lallen zu benutzen.
Noch etwas machte Solange Sorgen: Papas Neigung zu phantasieren.«Die Phantasie ist etwas
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