Der Klavierstimmer
Wunderbares und Kostbares», schrieb sie,«und Dir ist viel davon mitgegeben worden, mehr als den meisten Menschen. Aber Du mußt mit dieser Gabe sorgsam umgehen. Erfinde ruhig, soviel Du willst. Aber nicht, wenn man die Wahrheit von Dir erwartet. Denn dann bedeutet erfinden lügen. Es ist nicht leicht zu wissen, wann die anderen Anspruch auf die Wahrheit haben. Das hat mich das Leben gelehrt. Auch gibt es Menschen, die es verdienen, belogen zu werden. Aber das ist nicht die Regel. Und merk Dir: Die Menschen mögen es nicht, hinters Licht geführt zu werden. Ihre Rache kann grausam sein. Im Bahnhofsbuffet, da mochten sie Deine phantastischen Geschichten. Aber das Bahnhofsbuffet ist nicht das Leben.»
Wie gern hätte ich Solange gekannt!
«Tosca hatte soeben Scarpia erstochen und nahm ihm den Passierschein aus der Hand», fuhr Papa fort.«Der Vorhang fiel. Aus seinen Falten traten die Hauptdarsteller hervor und verbeugten sich an der Rampe. Langsam wanderte der Blick des Italieners in unsere Richtung. Chantal beugte sich weit nach vorn. Ich dachte an Mailand. Di Malfitanos letzter Blick galt unserer Loge, dann wandte er sich ab und verschwand. Ich bin diesem Mann, der euer Vater war, nie persönlich begegnet, und auch jetzt kam es zu keinem wirklichen Austausch von Blicken. Sein Blick wischte über den meinen hinweg, wie er über alle anderen auch hinwegwischte.
Ich hatte Angst vor dem Pausenlicht. Wir würden die Loge nicht verlassen, das war klar. Chantals Blick würde auf mir ruhen. Auf Frédéric Delacroix. Sie würde sich fragen, warum meine Hand nicht mehr auf der Manteltasche mit der Waffe lag. Warum habe ich nicht zu ihr gesagt: Laß uns nach Hause fahren! Warum bloß? Es wäre so leicht gewesen. Sie würde jetzt noch leben. Ich könnte zu ihr gehen. Wir könnten einen Spaziergang durch das Herbstlaub machen, wie auf der Reise nach Linz. Du hättest sie erleben sollen: Stundenlang ging sie ohne Schmerzen neben mir her, und einmal stellte sie den Stock zum Jux in eine Hausecke, als wolle sie ihn dortlassen. Wie in Lourdes!, lachten wir. Einmal gab sie mir auf offener Straße einen Kuß, und dann gingen wir wie übermütige Kinder Hand in Hand weiter. So etwas könnten wir jetzt wieder machen, immer wieder. Laß uns nach Hause fahren! Diese wenigen Worte hätten genügt.
Doch ich bin stumm sitzen geblieben. Die Pause kam mir endlos vor. Ich wollte mit den Gedanken zurück zu Fritz Bärtschi, zu Mutter und Solange. Das Licht aus den Lüstern störte dabei. Als es wieder ausging, hatte ich keinen einzigen Blick mit Chantal getauscht und kein einziges Wort gesprochen. Wie gesagt: Der Mittwoch war für uns beide ein schrecklich einsamer Tag.
Cavaradossi wurde auf das Dach der Engelsburg geschleift. Die Feder für den Abschiedsbrief an Tosca in der Hand, begann er E lucevan le stelle zu singen, mit dieser Stimme, die einen alles vergessen läßt. War es vorher nur Vorahnung gewesen, jetzt wußte ich es: Es war nicht mehr nötig, ihn zu töten. Was bei diesem Gedanken in mir geschah, war das Aufhören eines Fiebers, das jahrzehntelang in mir gewütet hatte. Das Aufhören eines verzehrenden Fieberns nach Anerkennung. Das lautlose und plötzliche Erlöschen einer Besessenheit. Eine stille Kapitulation, durch die sich mein ganzer Körper entspannte. Eine sonderbare Klarheit begann mich auszufüllen: die Klarheit, daß ich nicht die Begabung besitze, große Musik zu schreiben. Und daß das nichts macht.
Ich bin Klavierstimmer, dachte ich, ein guter Klavierstimmer, manche sagen: ein ausgezeichneter Klavierstimmer. Mehr nicht. In jenem Augenblick fand ich zu meinem ursprünglichen, hölzernen Namen zurück. Namen bedeuten ja nichts. Und doch hatte ich den Eindruck, als beschriebe mich dieser hölzerne Name ganz genau, treffender und umfassender als alle anderen Worte: Fritz Bärtschi. Ich bin Fritz Bärtschi, dachte ich. Fritz Bärtschi. Und nach einer Weile kam eine weitere Empfindung hinzu: Ich wollte die vielen Dinge, die ich über Musik weiß, loswerden. Nicht vergessen; aber ruhen lassen. Ich spürte, daß ich nun nichts mehr wollte, nichts mehr zu wollen brauchte. Daß Jahrzehnte eines ununterbrochenen Wollens zu Ende waren.
Seither bin ich ganz ohne Willen. Es ist schön und leicht. Ich hätte nicht gedacht, daß es so schön und leicht sein würde. Ich bin jetzt ohne Willen, wie ein Tagedieb, der sich treiben läßt. Wie Henri. Es ist, als sei ich in der Zeit zurückgereist bis hinter den Tag, als Pierre ins
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