Der Klavierstimmer
leben können. Das wußte ich ohne nachzudenken. Nicht die Frau, die sich seit eurer Flucht in eine sanfte Verschrobenheit eingesponnen hatte. Die Frau, die mit jedem Jahr weiter von der Wirklichkeit wegglitt, hinein in unwirkliche Dialoge mit euch und in lindernde Morphiumträume. Die Frau, deren Haut diese winzigen Runzeln bekommen hatte, welche der Haut das Aussehen von Pergament verliehen. Im Gefängnis gibt es kein Morphium. Schon allein deshalb war es undenkbar.
Als ich sah, wie sich ihr Arm, der Arm von Georges’ gelehriger Schülerin, mit der Waffe langsam senkte, bis er ganz gestreckt war, wurde ich vollkommen still in der Gewißheit, daß ich es sein würde, der für ihre Tat ins Gefängnis ginge. Es war der selbstverständlichste Gedanke der Welt, der keinen anderen neben sich duldete. Und so sprang ich, als der Schuß gefallen war, auf, drückte Chantal auf den Sitz und stellte mich neben sie, wie zu ihrem Schutz. Erst ein bißchen später begriff ich, wie wichtig das gewesen war: daß mich die Leute hatten stehen sehen, so daß ich sagen konnte, ich sei es gewesen. Wenn es darauf ankam, war ich immer kaltblütig, das sagten sie im Militär ebenso wie im Heim. Vorsichtig, wie um sie nicht zu wecken, nahm ich Chantal die Waffe aus der Hand. Sie ließ es geschehen, als merke sie es nicht, sie war abwesend wie in Trance. Über Schmauchspuren lernten wir beim Militär alles; Hügli, der Leutnant, war Kriminaltechniker. Ich hielt die Hand vor den Pistolenlauf und rieb, dann fuhr ich mit der Waffe über den Jackenärmel. Das mußte reichen, dachte ich, und es hat ja dann auch gereicht. Dann stand ich aufrecht in der Loge und blickte hinunter auf den toten Antonio di Malfitano und die Verwirrung auf der Bühne. Chantal war auf ihrem Sitz zusammengesunken. Der Vorhang wurde heruntergelassen, das Licht ging an, und jemand trat vor den Vorhang. Der Italiener sei erschossen worden, sagte er, niemand dürfe das Theater verlassen, die Ausgänge würden gesperrt, bitte haben Sie Verständnis. Ich blieb aufrecht stehen, blieb einfach nur stehen wie jemand, der nichts zu verbergen hat, und wartete, bis man auf mich zeigen würde. Als mich zwei Polizisten an den Armen packten, dachte ich: Wie albern, ich gehe doch auch so mit, und: Ich habe nichts zu verbergen. »
Das war Papas Geschichte.«Maman hat aus Loyalität geschossen», sagtest du, als du am Sonntag morgen bei mir warst, vor Erschöpfung grau im Gesicht und mit den Tränen kämpfend.«Sie hat es getan, weil Vater dazu nicht mehr die Kraft hatte.»
So mag es gewesen sein. Doch mittlerweile wissen wir: Wenn es so war, dann war es ein tragisches Mißverständnis. Papa fehlte im entscheidenden Moment nicht die Kraft, sondern der Wille. Wenn er Maman nicht in den Arm gefallen ist, dann nicht, weil er froh war, daß sie seinen Willen vollendete, sondern weil er glaubte, sie handle aus einem eigenen Willen heraus, der zu respektieren war. Doch den hatte sie in Wirklichkeit gar nicht. Es war ein fremder Wille, den sie zu Ende führte, als sie abdrückte, und zudem ein Wille, den es in diesem Augenblick nicht mehr gab.«Immer wieder zitierte sie Vaters Worte über das Betrogenwerden», sagtest du.«Als rufe sie ihn zum Zeugen dafür auf, daß sie tun mußte, was sie tat.»
Ich habe Papa nicht gesagt, wie es wirklich war. Daß es ein schreckliches Mißverständnis war, geboren aus Sprachlosigkeit; ein unnötiges Mißverständnis aus blinder, sprachloser Loyalität heraus. Daß Maman sich an jenem Abend ebensosehr wie er gewünscht hatte, einfach nach Hause zu fahren. Als er von der Staffette und Mamans eigenem Motiv für die Tat sprach, stockte mir der Atem. Wie leicht hätte es sein können, daß in Mamans Brief Sätze standen, die ihm klarmachten, daß sie es nur seinetwegen getan hatte! Doch was sie dazu geschrieben hatte, waren nur seine eigenen Sätze: Er hat uns betrogen. Um die Zukunft hat er uns betrogen.
Ich bin sicher: Als Schreibende tat sie dasselbe, was sie auch tat, als sie Samstag nacht zu dir sprach: Sie beschwor seine Worte, an die sie sich klammerte, um ihrer Tat, die gar nicht die ihre war, einen Sinn zu geben. Doch zum Glück konnte Papa das den Worten nicht ansehen. Still und erloschen saß er mir jetzt gegenüber, ein alter Mann, der mit der Waffe in der Hand im gefährlichsten Moment seines Lebens unsicher geworden war, ob ihm Musik wirklich etwas bedeutete.
Patrice
SECHSTES HEFT
WENN DU ZU PATTY nur nicht davon gesprochen hättest, Vater,
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