Der Klavierstimmer
Heim kam, und hinter den Tag, als ich seinen glänzenden Flügel zu Gesicht bekam, der alles, meinen gesamten Willen, in Gang setzte.
In der ersten Nacht in der Zelle kam mir auf einmal der Gedanke, daß es vielleicht ein großes Unglück gewesen war, Pierre zu begegnen. Eine Verführung zu einem Leben, das gar nicht meines sein konnte. Danach träumte ich von Pierre. Es war seit sehr langer Zeit der erste Traum von Pierre. Und es war das erste Mal überhaupt, daß ein Traum von Pierre mich unglücklich machte. Er bestand aus fast nichts, der Traum, vor allem hatte er keine Handlung. Im Grunde war es nur ein geträumter Geruch. Pierres Geruch. Und mir war nicht …wohl dabei.»
Papa schluckte und schluckte, der Adamsapfel wollte nicht zur Ruhe kommen. Da saß der Mann, der dir und mir durch seine Sehnsucht nach Anerkennung nicht weniger als die gesamte Musik verbaut hatte, und erklärte, es sei alles ein Irrtum gewesen. Meine erste Regung war Wut. Eine grenzenlose, überbordende Wut. Ich hätte nicht gedacht, daß ich einer solchen Wut fähig wäre, und schon gar nicht Papa gegenüber. Es war einfach so unfair. Ich muß ihn entgeistert angesehen haben, denn seine Augen wurden schuldbewußt.«Ich weiß», sagte er nur.
War das, was Papa sagte, eine Einsicht, die nachträglich große Teile seines Lebens zum Einsturz brachte? Oder war es nur eine Ermüdungserscheinung, die ihn davor bewahrt hatte, einen Mord zu begehen?
Er mußte, um zu sich selbst zu finden, Abschied nehmen von seiner Liebe zu Pierre, der einzigen wirklichen Liebe, die er gekannt hatte, einer Liebe, die ihn von sich selbst weggetragen hatte, statt ihn näher an sich heranzubringen, wie eine Liebe das sollte. War es so?
Dann säßest du jetzt in Berlin in deinem verrückten Tonstudio und beschäftigtest dich mit etwas, das Papa in den letzten Tagen seines Lebens abzustreifen versuchte, weil es für ihn keinerlei Bedeutung mehr hatte. Seine Musik, sie wäre wie eine leere Hülse. Und dieser leeren Hülse wegen verrietest du deinen indianischen Jungen.
«Chantal muß gemerkt haben, was in jenem Moment mit mir geschah. Als sich die Erschießungsszene ankündigte, spürte ich plötzlich ihre Hand in meiner Manteltasche. Mit einer entschlossenen, fast brutalen Bewegung zog sie die Waffe heraus. Sie stand auf und lehnte sich mit der Schulter an die Wand der Loge, die Waffe in den herunterhängenden Händen. Ich hörte das laute, hallende Geräusch des Entsicherns, das uns - so kam es mir vor - für jeden einzelnen Zuhörer verraten mußte.
Was ich jetzt sage, wird für jemand anderen schwer zu verstehen sein, da bin ich sicher: Ich verspürte nicht den geringsten Impuls, sie an ihrem Vorhaben zu hindern. Vielmehr kam es mir vor, als habe ich mein eigenes Vorhaben zur Ausführung an sie weitergegeben. Wie einen Staffettenstab. Und ich war stolz auf sie. Obwohl es auch weh tat. Denn bei ihr würde es nicht mehr dieselbe Tat sein. Sie würde den Italiener erschie ßen, weil nicht er hier an ihrer Seite saß, sondern ich, der Klavierstimmer, mit dem sie hatte vorliebnehmen müssen, um einen Vater für ihre Kinder zu haben. Einen kurzen Augenblick lang bereute ich meine Kapitulation, Eifersucht schoß wie eine Stichflamme in mir hoch, und nun wollte ich es doch selbst tun.
Aber da war es bereits zu spät. Die Soldaten waren gerade dabei, ihre Gewehre auf Cavaradossi in Anschlag zu bringen. Chantal hob die Waffe und winkelte den Ellbogen an. Mit der anderen Hand faßte sie zur Stützung unter den Ellbogen. Dann senkte sie langsam und konzentriert den Unterarm, bis der Lauf der Waffe genau in der Verlängerung des gestreckten Arms lag und so unbarmherzig auf Cavaradossi zeigte wie die Gewehre der Soldaten. Es war lange her, Jahre schon, daß ich in Chantal, die still und müde geworden war, so viel Spannkraft gesehen hatte, und es machte mich glücklich, einen so starken, rücksichtslosen, unaufhaltsamen Willen in ihr aufflammen zu sehen.
Sie schoß einen Takt zu früh. Ein, zwei Gewehre gingen daraufhin trotzdem los, aber die anderen Soldaten drehten den Kopf nach oben in unsere Richtung, die Waffe jetzt ziellos in den Händen. Di Malfitano stieß einen röchelnden Laut aus, taumelte und stürzte zu Boden, die Musik geriet in Unordnung und erstarb schließlich.
Es war unvorstellbar für mich, daß Chantal ins Gefängnis ginge. Und ich meine das ganz wörtlich: unvorstellbar. Es war die eine Sache, die ich nicht hätte ertragen, mit der ich nicht hätte
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