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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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daß dir die Musik vielleicht gar nichts bedeutet habe! Daß womöglich alles ein gigantischer Irrtum, eine umfassende Lebenslüge gewesen sei! Deine Worte hindern mich daran, mich ganz in deine Musik hineinfallen zu lassen in dem Gefühl, dir nun endlich nahe zu sein und dir denjenigen Respekt und diejenige Zuneigung entgegenzubringen, die ich dir schuldig geblieben bin. Denn nun weiß ich nicht, womit ich es bei der Musik, die durch die leeren Räume hallt, zu tun habe: mit einem Stück deiner Seele oder mit dem Ergebnis einer jahrzehntelangen Anstrengung, die gar nicht wirklich den Klängen galt, sondern dem Applaus, der auch der Applaus für etwas anderes hätte sein können.
    Wenn die Passagen harmonisch und die Töne wie Wind sind, der über Landschaften streicht, bin ich ganz sicher, daß die geäußerten Zweifel ohne jede Bedeutung sind, Irrlichter, die einem verqueren Bedürfnis nach Selbstzerstörung entsprangen, vielleicht auch Ermüdungserscheinungen nach einer langen Zeit der Erfolglosigkeit. Dann verschwinden jene zerstörerischen Sätze für eine Weile aus meinem Kopf. Bis zum nächsten Einbruch von Dissonanzen, die laut oder leise inszeniert sein können. Dann - obwohl die Welt der Musik voll ist von gekonnten Dissonanzen - denke ich auf einmal, daß etwas dran sein könnte an deiner vernichtenden Bilanz. Das hieße, daß ich Tag für Tag und Nacht für Nacht hier säße und einem Phantom nachjagte, statt Paco bei der Hand zu nehmen, wie ich es in Santiago jeden zweiten Tag tat. Wenn du nur jene Worte nie gesprochen hättest, Vater!
    Ich war es, der dich fand. Dein Tauchsieder veranlaßte mich nachzusehen. Warm war er nicht mehr, als ich um vier Uhr früh in die Küche kam. Aber so stand er nur, wenn du ihn vor kurzem gebraucht hattest. Das Bett im Schlafzimmer war unberührt. Du hattest nicht in das Zimmer gehen mögen, in dem wir zwei Nächte zuvor Maman gefunden hatten. Die Polstertür war zu. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich die Klinke drückte und nach vielen Jahren, in denen ich es vergessen hatte, spürte, wie schwer die Tür war, mit der wir deine Musik erstickt hatten.
    Beide Hände am aufgerissenen Kragen, saßest du mit geschlossenen Augen im Sessel. Es schien mir unendlich lange her, daß ich dich schlafend gesehen hatte. Du warst in mir gegenwärtig als einer, der bis tief in die Nacht hinein über seine Noten wachte und längst wieder am Schreibtisch saß, wenn wir aufstanden. Jetzt war dein Gesicht zur Ruhe gekommen, die Spuren des Herzanfalls waren verebbt. Noch bevor ich die unnatürliche Kühle deiner Haut spürte, wußte ich, daß du tot warst.«Vater», sagte ich trotzdem, und schüttelte dich sanft.
    Der Flügel war offen. Auf dem Notenpult lag Michael Kohlhaas , das Duett, das er und Lisbeth am Grab der Kinder singen. Ein letztes Mal hast du dich vergewissern wollen, wie sie ist, deine Musik. Du hast die Tür zugemacht, um uns nicht zu stören. Und so hörten wir dich nicht, als der Anfall kam.
    Ich habe die Tür hinter uns beiden zugemacht und bin bei dir geblieben, bis es dämmerte. Immer von neuem sah ich dich aus dem Gefängnistor in Moabit treten. Du warst unschuldig. Mamans Geständnis bewies es. Ihre Fingerabdrücke auf dem Lauf der Pistole bewiesen es. Die Schmauchspuren auf dem Abendkleid bewiesen es. Es war bewiesen. Trotzdem haben sie dich noch eine Nacht lang dortbehalten. Freigelassen werden Leute nur morgens, zu einer bestimmten Stunde.«Ich kann es nicht ändern», sagte Dupré und legte mir, obwohl ich ihn angeschrien hatte, die Hand auf die Schulter.
    Dein Haar war schlohweiß, und der Schnurrbart, der früher nie grau zu werden schien, war es jetzt. Die Länge der verflossenen Zeit, die sich an dem veränderten Aussehen zeigte, erschütterte mich - als hätte ich sie auf dem Weg nicht bis auf den Tag genau ausgerechnet. Nie zuvor, Vater, hatte ich an dich als einen alten Mann gedacht. Dein unbeugsamer Wille, die Welt eines fernen Tages doch noch zur Anerkennung deiner Musik zu zwingen, schien dir einen unerschöpflichen Vorrat an Zukunft zu verleihen. Ein bißchen war es, als seist du dadurch dem gewöhnlichen Lauf der Welt entrückt. Der Mann jedoch, der nun auf mich zukam, war alt geworden. Es war mir danach, dich zu umarmen - etwas, was ich als Kind zum letztenmal getan hatte. Doch du strecktest mir sofort und mit großer Bestimmtheit die Hand entgegen, als hieltest du eine Umarmung jetzt und vielleicht überhaupt für ausgeschlossen.«Vater», das

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