Der Klavierstimmer
Ich habe selten von dir gesprochen, und dann waren meine Auskünfte stets blaß. Er hat das respektiert, und so wird es bleiben.
Ich wollte deine Stimme nicht unmittelbar nach der seinen hören und rief das Studio an, um die Dinge während meiner Abwesenheit zu regeln. Während ich sprach, hörte ich das erste Mal seit langer Zeit das dumpfe Klopfen von Mamans Stock auf dem Parkett. Ich verlor den Faden und verstummte, so daß der alte Jean dachte, wir seien unterbrochen worden. Mit einem Schlag war mir alles wieder gegenwärtig: die Geschichte über den Unfall (die falsche), Mamans Gesicht, wann immer vom Ballett die Rede war, unser Schwanken zwischen Mitleid und Überdruß, wenn wir den Stock hörten, und auch unsere Wut, wenn Maman es übertrieb, um uns an ihre Schmerzen zu erinnern.
Ich hatte gerade aufgelegt, da erschien sie unter der Tür zu Papas Zimmer, in der einen Hand den Stock, in der anderen eine Partitur, die sie mir entgegenstreckte. Es war Michael Kohlhaas , eine Fotokopie.«Dafür hat er den ersten Preis bekommen», sagte sie,«sie werden sie aufführen, in Monte Carlo, wir waren dort, Salle Garnier heißt das Opernhaus, Antonio wird die Titelrolle singen, Frédéric wird auf der Bühne stehen.»
Daß sie di Malfitano beim Vornamen nannte, habe ich wahrgenommen, ohne mir in jenem Augenblick etwas dabei zu denken. Zu sehr war ich gefangengenommen von den übrigen Worten, die sie in atemlosem Staccato hintereinandersetzte. Es war, als sollte die schnelle Bestimmtheit, mit der sie sprach, das Unwirkliche des Gesagten überdecken. Sie sah mich nicht an, als ich die Partitur entgegennahm, ihr Blick blieb an dem Einband haften. Daß ein Blick verloren sein kann - erst jetzt erfuhr ich, was das heißt. Ein bißchen glich er dem Ausdruck einer Blinden, und auch das ziellose Lächeln sprach von einem Verlust der Wirklichkeit und einer Wendung nach innen. Maman sah erschütternd aus und pathetisch, wie sie dastand im zerknitterten Abendkleid, das Décolleté verrutscht, die Frisur zerstört, die Füße nur in Strümpfen, was sie klein und plump erscheinen ließ. Als ich stehenblieb, ohne etwas zu sagen, streifte sie mich mit einem verwirrten und ängstlichen Blick. Ich hätte sie in die Arme nehmen sollen, das spürte ich. Es hätte nicht die Umarmung der Mutter durch die Tochter sein müssen; ich hätte sie halten können wie eine Krankenschwester. Doch ich blieb stehen, den Blick auf den Titel der Partitur gesenkt, den Papa (selbst für die Kopie) in Schönschrift auf den Deckel gemalt hatte. Schließlich ging Maman zurück zu dem Sessel, in dem ich sie gefunden hatte. Jetzt waren es ihre Haltung und ihr Gang, die etwas Verlorenes an sich hatten, etwas entsetzlich Verlorenes.
Du mußt tief geschlafen haben, es dauerte lange, bis du das Telefon abnahmst. «¿Sí?» sagtest du. Es wurde ein unwirkliches Gespräch, nicht zuletzt wegen der Verzögerung, mit der die Worte beim anderen ankamen. Nachdem wir uns zweimal ungewollt ins Wort gefallen waren, hörtest du nur noch zu. Es war gespenstisch, meine düsteren Botschaften in das Rauschen der transatlantischen Leitung hineinzusprechen, das dein Schweigen noch unterstrich. Als wir aufgelegt hatten, kam es mir einen Moment lang vor, als sei es ein Fehler gewesen anzurufen, ich weiß nicht warum. Doch abends stellte ich das Telefon nach oben durch, und als du mir mitten in der Nacht die Ankunftszeit vom Samstag durchgesagt hattest, begann ich die Stunden zu zählen.
Wieder ist es über dem Schreiben Morgen geworden. Doch nicht nur mit dem Schlafen bin ich aus jedem Rhythmus herausgefallen. Auch sonst will es mir nicht gelingen, mich wieder in die hiesige Ordnung einzufügen. Das betrifft nicht nur Stéphane. Es betrifft auch das Studio. Inzwischen rief der alte Jean an, um sich zu vergewissern, daß ich am Montag auch wirklich käme, Madame Bekkouche habe ihm den Schnitt eines schönen aber schwierigen Films übertragen, und er brauche meine Hilfe. Er kann nur noch mit mir arbeiten, sagt er. Er ist ein Fossil und stammt noch aus der Zeit, wo die Filmstreifen aus Nitroglyzerin waren, so daß Rauchen strengstens verboten war. Widerstrebend hat er die technischen Neuerungen mitgemacht. Bis zu dem Moment, wo das Schneiden im Computer, also mit der Maus, gemacht wurde. Ich beherrsche die neue Technik, gehöre aber auch zu denen, die dem alten Schneiden und Kleben nachtrauern, auch den weißen Handschuhen, die man dazu anzog (zum Vermeiden von Fingerabdrücken und
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