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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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hatte sie fest angezogen, wie um sich möglichst klein zu machen. Einen Augenblick lang dachte ich, sie sei tot. Dann sah ich, daß sich ihre Brust langsam hob und senkte.«Maman», sagte ich, und dann noch einmal, lauter:«Maman.»Dieses Mal gehorchte mir die Stimme. Maman machte eine winzige Bewegung und war wieder still. Es war eine Ewigkeit her, daß ich sie anders berührt hatte als mit Handschlag. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich die erste Umarmung verweigerte. Ich war noch klein, und es hatte etwas damit zu tun, daß du mit einemmal so sonderbar warst, wenn du aus ihrem Boudoir kamst. Jetzt berührte ich ihre Schultern und befreite den Kopf von der Stola, die sich wie eine schwarze Kapuze um ihr Gesicht gelegt hatte und mich an Verurteilung und Hinrichtung denken ließ. Ihr Haar hatte den künstlichen Glanz von Spray. Sie hatte schön sein wollen, wenn Antonio di Malfitano die Bühne betrat. Jetzt war ihr Gesicht eingefallen und grau. Sie öffnete die Augen. Langsam, wie aus weiter Ferne, kam ihr Blick zu mir.«Patricia», sagte sie.«Maman», sagte ich. «Où est Patrice?» Bis du kamst, habe ich diese Frage Dutzende von Malen gehört.«Wann kommt er? Warum ist er noch nicht hier?»Sie fragte es flehentlich, beinahe so wie jemand, der betet.
    Ich nahm ihre Hand. Sie fühlte sich schrecklich welk an, und es war diese Empfindung von Alter und Verfall, die bewirkte, daß ich meinen Groll, den ich all die Jahre mit mir herumgetragen hatte, vergaß. Ich sah ihr in die Augen und hoffte, sie würde in meinem Blick die Erleichterung über den verlorenen Groll erkennen können. Doch nun begann ihr eigener Blick zu flackern, er wich dem meinen aus und wanderte unstet über meine Kleider. Da ahnte ich, daß etwas nicht stimmte. Sicher, auch das Morphium hatte ihren Blick stets ein bißchen unsicher gemacht, und inzwischen waren Jahre vergangen, in denen das Gift seine unheilvolle Wirkung hatte vertiefen können. Doch ihre jetzige Unfähigkeit, meinem Blick, der sich doch für sie öffnen wollte, standzuhalten, war etwas anderes. (Blicke sind seltsam flüchtige Wesen: Es gibt sie nur, wenn jemand sie liest; dann aber sind sie beredter und genauer als alle Worte.)
    Es war nichts aus ihr herauszubringen. Offenbar hatte sie die Nacht in diesem Sessel verbracht, denn sie trug noch Abendkleidung. (Ein dunkelrotes Kleid aus Taft, das Décolleté zu tief, der Saum aus demselben schwarzen Samt wie die Stola. Ich bin sicher: Dieses Kleid hatte Papa ausgesucht. So, genau so, sah er sie.) Immer wieder ging sie zu dem Sessel zurück, es war, als wollte sie sich bei Papa verstecken. Den Aschenbecher mit seinen Zigarettenstummeln durfte ich nicht leeren. Zu essen nahm sie nichts an. Sie hat mich mit keinem Wort nach der Reise oder meinem Leben in Paris gefragt. Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie darüber vorsätzlich schwieg. Vielmehr schien sie nur noch im Augenblick zu leben, ohne jedes Bewußtsein für seine Geschichte. Hin und wieder gab es Momente, wo sie mit abwesender, beinahe unpersönlicher Freundlichkeit zu mir sprach, doch es betraf lauter Nebensächlichkeiten. Diese ätherische Freundlichkeit, die ihr die Aura einer Irren gab, machte es unmöglich, mit ihr über das Geschehene zu sprechen. Wie soll ich es erklären? Mehr als einmal war ich kurz davor, sie anzuschreien und zu schütteln, um sie endlich in die Wirklichkeit zurückzuholen. Doch im letzten Augenblick beherrschte ich mich aus Furcht, etwas in ihr unwiderruflich zum Einsturz zu bringen, etwas Ungreifbares und Unverständliches, das sie, ohne daß es ein Wille gewesen wäre, aufrechterhielt. Statt dessen sprach ich betont ruhig und sachlich mit ihr, auch wenn ich meine Fragen oft drei-, viermal wiederholen mußte.
    Als ich in der Nacht versucht hatte, dich von Paris aus anzurufen, war keine Zeit für Befangenheit und Angst gewesen. Jetzt, wo ich das Haus betreten hatte und in die Vergangenheit zurückgekehrt war, zögerte ich den Moment hinaus, wo ich deine Stimme hören würde. Ich rief Stéphane in der Werkstatt an. Es wollte mir nicht gelingen, das Wort prison auszusprechen. Schließlich tat er es, und ich sagte nur: ja. Er hatte von dem Drama in den Frühnachrichten gehört. Keinen Moment hatte er angenommen, daß mit Frédéric Delacroix mein Vater gemeint sein könnte. Die Sachlichkeit seiner Worte, die beruhigend hätte sein können, verletzte mich.«Hast du Patrice erreicht?»fragte er am Ende. Er wird nie erfahren, was zwischen uns geschehen ist.

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