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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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kann, hätte ich nicht gedacht», sagte sie.
    Ich war stolz, daß Vater offenbar eine eigene, originelle Tonlage geglückt war. Zugleich war mir unheimlich bei dem Gedanken, daß außer mir noch jemand Vaters Aufschrei hörte.
    Die andere große Linie in diesem Akt sind Kohlhaasens Zwiegespräche mit Frau und Tochter. Lisbeth ist ein lyrischer Mezzosopran, Antonina eine Altstimme. Aus dem Textbuch wußte ich: Lisbeth beginnt regelmäßig mit der Bitte, er möge doch, ihretwegen und um der Kinder willen, von der Rache ablassen. Darauf Kohlhaas: es könne Zwecke geben, in Vergleich mit welchen seinem Hauswesen als ein ordentlicher Vater vorzustehen untergeordnet und nichtswürdig sei . Am Ende gibt Lisbeth immer klein bei und deklamiert Loyalität. Dann läßt Vater den Chor regelmäßig singen, was bei Kleist nur am Anfang vorkommt, wo alles noch im Rahmen ist und Lisbeth einfach ihrem natürlichen Rechtsempfinden Ausdruck verleiht: Er hatte die Freude zu sehen, daß sie ihn in diesem Vorsatz aus voller Seele bestärkte: daß es ein Werk Gottes wäre, Unordnungen gleich diesen Einhalt zu tun.
    Lisbeths Arien sind der italienischen Oper nachempfunden, ein bißchen sehr seelenvoll. Antonina sollte sich davon unterscheiden, und ihre besänftigenden Melodien klangen mir eher französisch. Da sagte Juliette mitten aus dem Spiel heraus lächelnd:«Debussy, Pelléas et Mélisande ». Als sie mein erschrokkenes und wohl auch verletztes Gesicht sah, fügte sie hinzu:«unbewußt natürlich.»Antonina scheint zunächst naiver als Lisbeth, leistet Kohlhaasens Verblendung aber mehr Widerstand. Vater hatte gar nicht genug bekommen können von dem Kontrast zwischen den sanften Melodien der Frauen und den rechthaberischen, musikalisch ausgreifenden Antworten von Kohlhaas, die in Juliettes Ohren teutonisch klingen. Als wir später über die beiden Frauengestalten sprachen, verzog Juliette säuerlich den Mund.«Na ja», sagte sie nur.
    Der Schluß des ersten Aktes ist der Höhepunkt; eine nahtlose Folge von Arien. Zuerst die Bitte der sterbenden Antonina, die auf die Bibelstelle deutet. Eine gefällige Melodie, mehr nicht. Es folgt die große Vergeltungsarie: So möge mir Gott nie vergeben, wie ich dem Junker vergebe! In diese Passage, die überhaupt nicht enden will, hat Vater alles hineingelegt. Es ist eisig im Raum, wenn diese Töne erklingen. Anton und Antonina sterben, Kohlhaas und Lisbeth singen ein Duett der Trauer und Wut. Es erinnere sie an Tschaikowsky, sagte Juliette vorsichtig. Ich lächelte.
    Zum Schluß dann Warum habt ihr mich verlassen ? Ich hielt den Atem an, als Juliette das Thema anschlug. Die Arie ist vollständig verunglückt, das höre sogar ich. Juliette hat recht: eine naive Melodie ohne formale Gestaltung. Entsprechend hat man den Eindruck, daß das Empfinden keine richtigen Konturen hat: Ist es einfache Trauer, vorwurfsvolle Enttäuschung oder Anklage? Hätte die Arie mehr Form und Ausdruckskraft, würde sie mich mehr treffen, das weiß ich. Trotzdem bin ich unglücklich, daß Vater an dieser Stelle nichts Besseres gelungen ist. Ist es, weil ein Unverständnis, gegen das er vergeblich ankämpfte, ihn lähmte, so daß die Ausdrucksschwäche der eigentliche Ausdruck des Schrecklichen ist? Wenn ich es so sehe, trifft es mich mehr als eine fulminante Anklage.

    Mit Juliette war das erste Mal seit deiner Abreise jemand im Haus, der etwas mit meinem Leben zu tun hat. Nach ihrem Besuch ist es anders, hier zu sein. Ich weiß nicht, ob ich die Veränderung mag. Ob das einsame Schreiben in den leeren Räumen, die von deiner Abwesenheit hallen, nicht schöner war.
    Das erste Mal seit Vaters Tod ist Rauch in den Räumen. Juliette macht die Zigaretten sorgfältig aus und zerdrückt auch noch den letzten Rest Glut. Früher waren überall Mamans brennende Zigaretten. Unsere ständige Angst, es könnte etwas passieren. Aschewürmer, Brandspuren auf Antiquitäten. Vaters schlafwandlerische Sicherheit im Aufspüren glühender Stummel. Überhaupt: Vater als Butler. Bei Einladungen der überkorrekte, ein bißchen steife Gastgeber - einer, der es aus dem Buch gelernt hat. Die Regeln, die er anwandte, für Gläser und Besteck etwa, oder für das Abnehmen von Damenmänteln: Keiner kennt sie mehr. Wenn er sich hinter die Damen stellte und ihnen bei Tisch den Stuhl zurechtrückte: Den meisten war das noch nie passiert, und wenn sie nach einer Schrecksekunde verstanden hatten, dankten sie mit glücklichem Erstaunen, als sei ihnen einen

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