Der Klavierstimmer
Moment lang eine versunkene Welt gezeigt worden, in der sie noch etwas gegolten hatten. Dies alles erinnerte an Vaters Opernitalienisch: beides aus einer anderen Zeit. Sein Handkuß: ein Schlager. Selbst wir fanden, daß neben dem sonderbaren, ein bißchen peinlichen Charme auch Würde darin lag. Die Würde des Hausherrn oder die des Butlers? Unauffällig beseitigte er die Spuren von Mamans Morphiumzerstreutheit. Nicht nur brennende Zigaretten, auch Notizzettel, offene Füller und liegengelassene Bücher. Er war es, der die im Laufe eines Tischgesprächs versprochenen Dinge beim Abschied an der Tür bereithielt, eingepackt. Butler: Nein, auf den zweiten Blick doch nicht. Fürsorglichkeit, stummer Ausdruck von Liebe. Und die Leute merkten es, besonders die Frauen. Am nächsten Tag riefen sie an und dankten für den Abend. Ließen ihn grüßen, ihn ganz besonders. Er war beliebt, unser Vater. Es hat ihm nichts bedeutet. Nicht wirklich.
Nach all der melancholischen und zornigen Musik hatten wir das Bedürfnis zu lachen. Das Stichwort war die Dickfütterung von Kohlhaasens Pferden. Juliette bog sich, als ich ihr noch einen Satz und noch einen vorlas, in dem das Wort vorkommt. Dazu Patisserie.
Ich begann ihr von Chile zu erzählen, von Paco und den Friedhöfen. Ich lernte sie alle kennen, die Friedhöfe von Santiago. Ich schritt sie ab, Reihe für Reihe, Grab für Grab. Das war mein tägliches Vorhaben in der ersten Zeit. Dabei sah ich dich vor mir, wie du am Morgen unseres ersten Abschieds mit der Reisetasche die Straße entlanggingst, zur Seite geneigt als Gegengewicht. Es war wie ein gefrorenes Bild am Ende eines Films, und ich hatte nicht die Macht, den Film weiterlaufen zu lassen. Vor den Gräbern von Santiago kämpfte ich gegen die Erstarrung an, in die mich jenes Bild versetzt hatte. Cementerio Central: die gigantischen Gräberwände, die in Pacos Zeichnung vorkommen; Cementerio Católico: die Sakralbauten, Gräber der Reichen; Parque del Recuerdo: eine riesige Rasenfläche, auf der man aus der Entfernung nur eine Unmenge von Blumengebinden sieht, bis man näher tritt und die in den Rasen eingelassenen Grabsteine bemerkt. Bis zu sieben Särge sind in der Erde unter den Tafeln übereinander geschichtet.
Warum denn, um Gottes willen, diese düstere Beschäftigung, fragte Juliette. Ich hätte das Grab von Henri gesucht, sagte ich: dem Mann, der Vaters Mutter sitzenließ und nach Chile ging, um sein Glück zu versuchen. ( Großvater Henri klingt sonderbar, und Vater hat auch nie von Vater gesprochen; obgleich er es war.) Ganz haben wir ja nie an diese Geschichte geglaubt, du und ich. Aber es reichte als Ausrede, um jeden Tag wieder auf die Friedhöfe zu gehen. Als ich durch das Tor des letzten hinaus auf die Straße trat, mit einemmal ohne Vorhaben und einer bedrohlich leeren Zeit vor mir, da beschloß ich, von vorn zu beginnen. (Henri könnte seinem Namen ja eine spanische Form gegeben haben. Vielleicht hatte er aus Hofer Cortés gemacht? Dem reichen Mann, den wir vom Foto her kannten, wäre das zuzutrauen gewesen.) So lernte ich Dutzende von Trauernden kennen, meist Frauen, aber auch einige Männer. Und ich lernte die typisch chilenischen Namen kennen und die Geschlechter, die in der Geschichte von Santiago eine besondere Rolle gespielt hatten. Sie waren wie eine Droge, diese stundenlangen Aufenthalte auf dem Friedhof, sie verhalfen mir zu einer Betäubung, die mich davor bewahrte, mich meiner neuen Gegenwart zu stellen.
So habe ich die ersten Wochen und Monate verbracht: Ich lernte Santiagos Friedhöfe auswendig, und ich lernte mein spanisches Wörterbuch auswendig.
Als ich Jahre danach Paco kennenlernte, machte ich mit ihm Spaziergänge über die Friedhöfe. Das war zu einer Zeit, als er immer noch kein Wort gesprochen hatte. Mercedes gefielen diese Ausflüge nicht, aber Paco war danach stets friedlich und zugänglicher als sonst, und so erlaubte sie es. Was sie nicht wußte: Wir zwei, Paco und ich, waren auf der Suche nach einem Nachnamen für ihn. Er solle die Namen auf den Grabsteinen betrachten und sich den schönsten aussuchen, hatte ich ihm erklärt. Wortlos blieb er vor einem Grab stehen, wenn ihm der Name gefiel. Was ihn faszinierte, waren Namen mit U und doppeltem rr : Urra, Urrutia … Später, als seine Stummheit durchbrochen war, sagte er oft solche Namen vor sich hin wie einen Kinderreim, wobei er das r über viele Sekunden dehnte.
Doch soweit war es noch lange nicht. Vorerst blieb er mein
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