Der Klavierstimmer
weil die Arbeit für den Film gerade erst begonnen hatte. Ich kam zufällig vorbei und blieb vor dem Hotel stehen: Ja, hier hatten wir mit den Eltern und GP gewohnt. Ich sah GP unter dem Portal die weiße Pfeife stopfen: Deutlicher hätte er nicht unterstreichen können, wie wohl ihm beim Anblick der teuren Wagen war, die da standen.
Stéphane trat mitten in dieses Erinnerungsbild hinein. Er trug (das tut er immer) einen blauen Anzug und eine dezente, einfarbige Krawatte. Auf den Stufen vor dem Eingang steckte er die rechte Hand in die Tasche der Jacke. Er wirkte unsicher und gehetzt. Als er sich schließlich entschied, nach links statt nach rechts zu gehen, wirkte der Entschluß zufällig. An der nächsten Straßenecke blieb er vor einem Abfallkorb stehen. Mit einer ruckartigen, fast wütenden Bewegung nahm er die Hand aus der Jackentasche und sah auf den farbigen Umschlag hinunter, den sie hielt. Als habe er etwas zu verbergen, trat er näher an die Hauswand heran, bevor er ihn aufmachte. Es schienen Fotografien zu sein, die er herausnahm und regungslos betrachtete. Minuten verrannen, ich weiß nicht, was meinen Blick bei diesem Mann festhielt. Plötzlich dann steckte er den ganzen Stapel zurück in den Umschlag und warf das Ganze in den Abfallkorb. Mit eiligen Schritten bog er um die Ecke.
Ich überquerte die Straße und fischte den farbigen Umschlag aus dem Drahtkorb. Er enthielt etwa zwei Dutzend Fotos von ein und demselben Kind: einem neun- oder zehnjährigen Mädchen mit Stupsnase, dunklen Augen und goldenen Locken. Der Ort war auf jedem Bild ein anderer: vor einem Schaufenster, auf der Treppe hinunter zur Métro, im Park. Immer war eine Frau dabei, erkennbar als Arm und schmuckbehängte Hand, die unscharf mit dem Hintergrund verschwammen. Hätte ich die Bilder nur zurück in den Korb getan!
Zwei Tage später betrat der Mann im blauen Anzug das Reisebüro. Er wollte eine Fahrkarte nach Albertville und ließ sich verschiedene Verbindungen heraussuchen. Sein Blick war abwesend, und zwischendurch schien es, als habe er sein Vorhaben vergessen. Zwei Stunden später saß er wieder vor mir und gab die Fahrkarte zurück. Es habe sich etwas geändert, sagte er nur.
Es dauerte etwa einen Monat, dann sah ich ihn wieder. Er betrat einen Schmuckladen, der mit eigener Handarbeit warb, und kam nicht mehr heraus. Der Mann ging mir nicht aus dem Kopf, und einige Tage später betrat ich den Laden und erkundigte mich, was es kosten würde, einen meiner Ringe zu ändern. Da kam Stéphane aus der Werkstatt, immer noch mit Krawatte, nur die Jacke hatte er ausgezogen und mit einem Arbeitskittel vertauscht.«Ach, Sie», sagte er.
Es hat mehr als ein Jahr gedauert, bis ich die Geschichte über die Fotos und die Fahrt nach Albertville erfuhr. So ist Stéphane: Man muß ihm Zeit lassen. So, wie er einem Zeit läßt.
Das Mädchen auf den Fotos war die Tochter einer Kundin, für die er einen Schmuck kreiert hatte. Am Tag, als er sie im Hotel zum erstenmal aufsuchte, sah er das Mädchen und verlor daraufhin, wie er sagte, für einige Zeit den Verstand. Das Mädchen nämlich sah seiner kleinen Schwester zur Zeit ihres Todes zum Verwechseln ähnlich. Viele Jahre lang war es ihm gelungen, das Geschehen, das zu ihrem Tod geführt hatte, aus der Erinnerung zu verbannen. Jetzt kamen die Bilder zurück, und sie müssen eine solche Wucht besessen haben, daß Stéphane für einige Tage nicht mehr bei sich war und dem Geschäft fernblieb, unauffindbar für alle, die sich um ihn Sorgen machten.
Es muß ein hellgrauer Tag mit Schneegestöber gewesen sein, als es passierte. Gris clair , das ist wichtig, es ist immer dasselbe Wort, wenn er einen neuen Anlauf macht, die Begebenheit zu erzählen. Einmal fügte er hinzu: es sei sonderbar gewesen, in diesen Himmel zu schauen und zuzusehen, wie sich die Schneeflocken aus dem Hellgrau herauslösten, wie sie aus der hellgrauen Farbe herauswuchsen. Überhaupt habe er bis zu jenem Tag sehr oft in den Himmel hinaufgesehen, die anderen hätten darüber gespottet, auch die Lehrer, wenn er den Hals verdreht habe, um aus dem Fenster des Klassenzimmers in den Himmel hinaufsehen zu können. Danach, nachdem es geschehen sei, habe er niemals mehr in den Himmel gesehen, nicht ein einziges Mal. Und es stimmt: Wenn ich ihn auf den Himmel aufmerksam mache, so erfindet er sofort etwas anderes, auf das er unsere Aufmerksamkeit lenken kann. Daß er, wenn er von jenem Tag zu sprechen versucht, so lange bei dieser und
Weitere Kostenlose Bücher