Der Klavierstimmer
anderen Einzelheiten verweilt, besonders bei den Farben: Es kommt mir vor, als hoffe er, durch die Beschwörung dieser Details die vergangene Zeit anhalten zu können, so daß sie den schrecklichen Moment des Geschehens nie erreicht.
Colette, die kleine Schwester, saß oben am Abhang auf dem Schlitten. (Am steilen Abhang, sagt er, es scheint, als habe sie sonst immer an einem anderen, flachen Abhang gespielt.) Wie er auch, trug sie eine Mütze mit Ohrenklappen gegen die Kälte. Colettes Klappen hatte die Mutter mit Stickerei verziert, seine nicht. (Einige Tage nachdem er es mir erzählt hatte, sagte er plötzlich in die Stille hinein: Sie hat sich sogar die Mühe gemacht, für die beiden Klappen ganz verschiedene Muster auszusuchen. ) Die Schwester war die Quirlige und Charmante, welche die Erwachsenen zu verzaubern verstand; eine Schauspielerin mit goldenen Locken, eine kleine Queen. Der Gegensatz zu ihm, dem Stillen, Unauffälligen, muß groß gewesen sein. Ohrenklappen für ihn zu besticken, sagte er, habe sich nicht gelohnt. An jenem Tag hatte seine Mutter, die Lehrerin, frei. Sie saß auf einer Bank und rauchte. Colette sah neugierig auf den steilen Abhang, den die älteren Kinder hinunterglitten. Ihr Wunsch, es ihnen gleichzutun, war stark, das sah man an der Art, wie sie langsam immer näher an die Kante rückte, den Körper weit nach vorne gebeugt.
Was dann im einzelnen geschah, hat Stéphane nicht gesagt; ich glaube, er wird es nie jemandem sagen. Mitten am Abhang überschlug sich Colette und blieb tot liegen. Meurtrier, sagte die Mutter. Mörder. Er durfte nicht zur Beerdigung und mußte sich am nächsten Tag heimlich auf den Friedhof schleichen. Die Mutter ( elle, sagt er nur) weigerte sich, ihn bei sich zu behalten, und wollte ihn in Annecy in ein Heim stecken (nicht in Albertville, wo sie wohnten; er sollte nicht einmal mehr in derselben Stadt sein). Der Großvater, ein Goldschmied, verhinderte das und holte ihn zu sich nach Paris, wo er die Schule beendete und die Lehre als Goldschmied machte. Noch heute wohnt er in der Wohnung, die ihm der alte Mann vermacht hat.
Die mühsam verbannte Erinnerung an diese Dinge brach über Stéphane herein, als er sich im Hotelzimmer seiner Kundin dem kleinen Mädchen gegenübersah. Den Scheck, den ihm die Frau als Vorauszahlung für den Schmuck ausgestellt hatte, vergaß er mitzunehmen. Die folgenden Tage verbrachte er damit, dem Mädchen und seiner Mutter auf Schritt und Tritt zu folgen, heimlich und aus der Ferne. Er kaufte ein Teleobjektiv und machte Bilder von dem trippelnden Lockenkopf, die er sofort entwickeln ließ und stets bei sich trug. Er schlief nicht mehr. Nach einer Woche tauchte er im Geschäft auf, setzte sich ohne Erklärung an die Werkbank und stellte den bestellten Schmuck in einer Arbeit von zwei ganzen Tagen und Nächten fertig.
Als ich ihn aus dem Hotel kommen sah, hatte er den Schmuck gerade abgeliefert. Vor dem Abfallkorb zwang er sich mit aller Macht, den Alptraum der vergangenen Tage zu beenden, indem er die Fotos wegwarf. Er schlief trotzdem nicht. Als er ins Reisebüro kam, hatte er beschlossen, nach Albertville zu fahren und sich gegen die erdrückende Last zu wehren, indem er den Ort des Geschehens aufsuchte und sich vergegenwärtigte, daß es nicht so gewesen war, wie ihm die Mutter angedichtet hatte. Das war eine unsinnige Idee, fand er, als er mit der Fahrkarte im Café saß, und so brachte er die Karte zurück.
Als Stéphane von diesen Dingen erzählte, tat er es stockend und mit so langen Pausen, daß ich jeweils zweifelte, ob noch etwas käme. Als er fertig war und am Fenster stand, machte ich einen großen Fehler, den ich in den Wochen, in denen wir uns danach nicht sahen, nur langsam zu erkennen lernte. Ich erzählte von Michel Payot. Indem ich Stéphane davon erzählte, wollte ich ihm nur - so dachte ich im Moment - zu verstehen geben, daß ich wußte, wie es war, die Urheberin von Unfall und Tod zu sein. Deshalb erzählte ich auch noch Michels Ende. Doch Stéphane muß sofort gespürt haben, daß ich viel mehr wollte: eine Gemeinsamkeit der Schuldigen, die helfen könnte, das Empfinden der Schuld zu lindern. Was ich, während er sprach, in mir gespürt hatte (gegen bessere Einsicht), war die Sehnsucht nach der einen, einzigen Gemeinsamkeit gewesen, die du verweigert hattest, weil du die Intimität der Schuld haßtest, die mich mit Michel verband. Doch Stéphane wußte aus zwanzig Jahren Erfahrung, daß es eine entlastende
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