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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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zweiten Vornamen.
    Mitte Zwanzig bricht das Rheuma aus. Auch darüber berichten die Zeitungen, um zu erklären, warum die Königin des Petersburger Balletts nachläßt und ab und zu sogar einknickt und fällt. Elena reist nach Lugano in die berühmte Rheuma-Klinik von Ferdinando Fontana. Ende Zwanzig heiratet sie den Arzt, ein Jahr später wird Clara geboren. Die bewährte Therapie Fontanas, die in den ersten Jahren hilft, kommt gegen die wachsenden Schmerzen nicht mehr an, Elena wird zur chronischen Schmerzpatientin. Fontana gibt ihr Morphium, immer mehr. Mit vierzig bringt sich Elena um. Da ist Clara gerade zehn. Auf ein gesondertes Blatt hat Maman eine Zeitungsmeldung über Ferdinando Fontana geklebt: Er habe sich kurz nach dem Selbstmord von Elena aus der Rheumaklinik in Lugano zurückgezogen. Das Foto: ein von tiefer Depression gezeichnetes Gesicht.
    Das Manuskript über die Geschichte des Balletts hat Elena kurz nach Claras Geburt begonnen, und sie hat daran gearbeitet, bis sie im Kampf gegen die Schmerzen unterlag. Zehn Jahre Recherchen, die Zürcher Universitätsbibliothek hat ihr Hunderte von Büchern per Fernleihe besorgt, die Talons belegen es. Erst waren wir verwundert, daß die Korrekturen des getippten Texts in zwei ganz verschiedenen Handschriften verfaßt sind. Die eine Schrift ist diejenige von Elena selbst, es gibt Dokumente, an denen man das ablesen kann. Sie hält sich bis etwa Seite vierhundert durch, dann übernimmt die andere Schrift, die einen ungelenken Eindruck macht. Es muß sich um Fontanas Schrift handeln, denn in einem der Kartons fanden wir eine russische Grammatik mit seinem Stempel und mit Übungen, die er gemacht haben muß. Weiß der Himmel, warum er glaubte, über genügend Sprach- und Sachkenntnis zu verfügen, um Elenas Text nach ihrem Tode zu Ende redigieren zu können! Seine eckigen Eintragungen wirken wie der verzweifelte Versuch, eine Verbindung zu der Toten aufrechtzuerhalten. Es hat auch etwas von Buße an sich, sagte Stéphane.
    Und er hatte recht: Der nächste Text, den wir fanden, ist ein angefangenes Buch von Fontana über die seelischen Begleiterscheinungen des Rheuma und über Morphinismus, in dem er sich dafür rechtfertigt, daß er Elena mit Morphium behandelt hat. Einige der Sätze, die mir Stéphane aus dem Italienischen übersetzte, sind erschütternd: als seien sie für das Gericht aller Gerichte geschrieben. Es gibt eine Aufzeichnung von Clara, in der sie versichert, Fontana selbst habe nie Morphium genommen. Die letzten drei Jahre seines Lebens scheint er nur noch vor sich hinzubrüten, Clara, die aufs Gymnasium geht, versorgt ihn. Er stirbt mit siebenundsechzig, Clara beschreibt es als ein Verlöschen. Sie ist neunzehn und hat gerade die Maturität gemacht.
    Clara vergöttert ihre Mutter. Nie vergißt sie beim Unterschreiben, dem Tessiner Namen des Vaters den georgischen Namen der Mutter anzufügen. Doch sie darf nicht zum Ballett, Fontana, der Vater und Arzt, verbietet es, er will nicht, daß sie das Schicksal seiner Frau wiederholt. Dafür darf sie Klavier lernen. Sie geht aufs Konservatorium in Zürich. Im dritten Jahr des Studiums beginnt das Rheuma in den Händen. Es kommt nur langsam und leise, so daß eine flackernde Hoffnung bleibt. Trotzdem, die Konzertlaufbahn scheidet aus. Clara denkt an Klavierlehrerin. Doch auch das wird unmöglich. Mit vierundzwanzig gibt sie das Konservatorium auf und vollzieht eine Wendung: Sie wird Krankenschwester und geht einer Liebe wegen nach Genf. Als es mit den Gelenken noch einmal schlechter wird, bietet man ihr die Leitung der Schwesternschule an, auf der Station ist sie jetzt nur noch halbtags. Sie bleibt heiter, das Rheuma kommt vorübergehend zum Stillstand, mit dem Beruf geht es viele Jahre gut. In einem von Mamans Fotoalben gibt es ein Bild mit Clara am Klavier, umringt von Kolleginnen im weißen Kittel. Mit dreißig gibt es einen gewaltigen rheumatischen Schub. Da begegnet sie GP, der sich in ihrer Klinik behandeln läßt. Ganz hinten im Album, mitten auf einer leeren Seite, steht in Mamans Handschrift der Satz: Maman hat Morphium nie angerührt . Die Schrift ist zittrig, die Zeile verrutscht. Sie muß das geschrieben haben, als sie den Stoff dringend brauchte. Die Worte wirkten, sagte Stéphane, als habe Maman sie hingeschrieben, um sich an ihnen festzuhalten. Um sich gegen den Sog der Sucht zu stemmen.
    Schließlich ein drittes Manuskript: Claras Übersetzung von Elenas Konvolut ins Französische. Ihre

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