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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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dir?
    Oft schon habe ich mir gewünscht, er möge in Konkurrenz zu dir treten, den Kampf gegen dich aufnehmen. Einen Kampf, der mich von dir befreien könnte. Dann macht mich seine Diskretion rasend. Nachher bin ich wütend über mich: daß ich die Befreiung von einem anderen erwarte, statt sie selbst zu vollziehen. Dann wieder denke ich: Ich habe jemanden gesucht, der so anders ist als du, daß es zu keiner Konkurrenz kommen kann.
    Wieviel Abgrenzung verträgt die Liebe? Damit es noch Liebe ist?

    Zum erstenmal hat sich Stéphane in mein Leben eingemischt. Dabei sah es am Anfang überhaupt nicht danach aus. Der Boden der Wohnung war übersät mit Papas und Claras Büchern, als er eintrat. Er erstarrte, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff: Der Anblick war ähnlich demjenigen, bei dem er damals das Bild von Colettes Doppelgängerin entdeckt hatte.«Stell dir vor», sagte ich schnell,«Papa hat ein System mit achtundzwanzig Arten von Erfolg und Mißerfolg entwickelt, alles in Farbe, es geht so kompliziert zu wie in der Kabbala.»Ich hatte es nicht sagen wollen. Überhaupt hatte ich nicht von Papa sprechen wollen, oder Maman, oder dir. (Ich hatte sogar überlegt, die Bücher wegzuräumen; doch das war eine Frage der Selbstbehauptung.) Nun konnte ich nicht mehr zurück. Und ich erlebte eine große Überraschung: Nach zwei Stunden kannte sich Stéphane in Papas Scholastik besser aus als ich.
    Wieder einmal staunte ich über sein phänomenales Gedächtnis. Wenn er will, behält er einfach alles. Aber es ist nicht, wie bei Papa, ein Fluch, denn es besteht nicht aus unauslöschlichen Erinnerungen an Unrecht. Überhaupt geht es nicht um Dinge, die ihn betreffen. Es sind französische Monarchen und Schlösser, über die er alles weiß. Und Napoléon. Er hat eine sonderbar trockene Art, davon zu erzählen. Keine Spur von Identifikation. Es ist eine Welt von trockenen Märchen. Es gibt eine Verträumtheit dabei, die groß ist und echt, ohne sich zu überhitzen. Die Rolle, die das Erinnern bei Stéphane spielt, ist so anders als bei Papa, daß ich manchmal denke: Es handelt sich um vollkommen verschiedene Fähigkeiten.
    Beim Essen sagte er auf einmal:«Kannst du es nicht so sehen: Dein Vater wollte einfach wissen, was geschehen kann, wenn jemand mit einer Schöpfung seiner Phantasie an die Öffentlichkeit tritt. Und er wollte es ganz genau wissen. Wie ein Wissenschaftler.»Es war der Versuch, mich aus der verbissenen Wut zu befreien, mit der ich über den Irrsinn von Papas Farbmarkierungen gesprochen hatte. Was hätte es genutzt zu sagen: Du kanntest Papa nicht!
    Claras Bücher hätte ich lieber ganz für mich behalten. Aber während ich kochte, hatte Stéphane bereits zu blättern begonnen. Bis in die frühen Morgenstunden hinein blieben wir auf den Spuren von Clara und ihren Eltern.
    Das Wichtigste fanden wir ganz unten in einem Karton: drei dicke Manuskripte, in denen vier Menschen mit Worten gegen ihr Schicksal angekämpft haben. Das eine stammt von Claras Mutter, Elena Fontana-Aslanischwili. Es ist eine fast fünfhundert Seiten dicke Geschichte des Balletts. Du und ich, wir hatten keine Ahnung, daß diese Frau eine Berühmtheit war. Erst die vielen Dokumente, die Maman mit größter Akribie geordnet und beschriftet hat, enthüllen ihre tragische Geschichte.
    Elena Aslanischwili wuchs in Tiflis auf, wo sie eine bekannte Balletteuse wurde, die mit einundzwanzig ein Angebot nach St. Petersburg erhielt. Es gibt Fotos der tanzenden Elena in der Schule von Tiflis, auf der Ballettschule von Tiflis, in der Oper von Tiflis. Dazu: Elenas Diplom der Ballettschule in Tiflis; ihr Vertrag mit dem Petersburger Ballett; reihenweise Auszeichnungen; ein dickes Album mit hymnischen Kritiken in den Zeitungen von Tiflis, und ein weiteres Album mit Zeitungsausschnitten aus Petersburger Zeitungen. (Auf der einen Seite jeweils der russische Text, auf der gegenüberliegenden die französische Übersetzung von Clara.) Elena Aslanischwili, sie wurde Désirée genannt, die göttliche Désirée. Es war Stéphane, der auf die Erklärung stieß: Elena wurde bald nach der Ankunft in St. Petersburg mit der großen Sängerin Désirée Artôt verglichen, der einstmaligen Verlobten von Tschaikowsky. In der einen Zeitung wird sie die Ballettinkarnation der unvergleichlichen Désirée Artôt genannt. Diesen Künstlernamen, der mitten im tosenden Beifall von den Rängen heruntergerufen wurde, sollte sie später an ihre Tochter Clara weitergeben, als

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