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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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oder gar befreiende Gemeinsamkeit dieser Art nicht geben kann, es sei denn als Lüge. Er drehte sich um und warf mir einen traurigen, vielleicht auch enttäuschten Blick zu. Dann ging er ohne ein Wort hinaus.
    Die Fotos von Colettes Doppelgängerin hatte ich damals im Schreibtisch verstaut. Einige Wochen nachdem mir Stéphane die Geschichte erzählt hatte, suchte ich verzweifelt nach einem Dokument, und weil es sich partout nicht finden wollte, räumte ich den gesamten Schreibtisch aus. Als Stéphane überraschend vorbeikam und das mit Papieren übersäte Zimmer betrat, fiel sein Blick auf eines der Fotos, das aus dem Umschlag gerutscht war. Es half nichts, daß ich ihm die Geschichte so erzählte, daß mein Interesse an ihm im Vordergrund stand. Er hat mich danach nie mehr überraschend besucht, und er mischt sich seither noch weniger in mein Leben ein als vorher.
    Das ist es, was Stéphane zu einem besonderen Menschen macht: Er mischt sich nirgendwo ein. Das ist bei ihm nicht Einsicht oder Absicht, keine Lebensphilosophie. Er ist einfach so oder ist es geworden. Seine Art zu fragen, und überhaupt seine Art zu sprechen: Sie läßt alles, wie es ist. Als habe er für immer das Recht verwirkt, in einem anderen Leben etwas zu verändern. Seine Zärtlichkeit, die sich nicht einmischt. Die Hand, die bereit ist, sich beim ersten Anzeichen der Scheu - und schon vorher: bei der bloßen Ahnung einer Scheu - sofort und endgültig zurückzuziehen. (Manchmal habe ich gedacht: die Hand, die Colette über die Kante des Abhangs hinausschob.) Er rasiert sich zweimal am Tag. Sonst könne er sich niemandem zumuten, sagte er einmal.
    Stéphane, er gehört nirgends dazu. Er ist korrekt, er ist auf altmodische Weise höflich (ein bißchen wie Papa: bei Tisch hält er mir den Stuhl, bis ich ganz richtig sitze), und er ist überall gern gesehen, weil er Gespräche so zu führen versteht, daß die anderen besser zu Wort kommen, als sie es sonst gewohnt sind. Aber er bleibt stets, auch wenn er selbst redet, im Hintergrund. Alle wissen: Er ist Goldschmied, einer mit Ideen, für viele ein Geheimtip. Mehr weiß keiner. Er gibt keine Einladungen, kaum jemand kennt seine Wohnung, und manchmal ist er tagelang telefonisch nicht zu erreichen. Er ist der stillste Mensch, den ich kenne. Noch mitten im größten Verkehrslärm tritt er leise auf. Niemand kann Türen so leise schließen wie er, oft weiß ich nicht, ob er noch drinnen ist oder schon draußen. Wenn man seinem Blick das erste Mal begegnet, hat man den Eindruck, er schiele, oder es sei sonst etwas mit seinen Augen nicht in Ordnung. In Wirklichkeit ist es nur so, daß sein Blick ungewöhnlich zurückhaltend ist, er scheint ständig ganz woanders herzukommen und sich nur mühsam auf etwas in der Außenwelt einstellen zu können. Nie ist sein Blick zudringlich. Immer wenn ich ihn in der Werkstatt besuche, wo er oft durch die Lupe guckt, denke ich: Dort, bei den goldenen Schmuckstücken, ist sein Blick am liebsten. Alles andere hat für ihn keine Bedeutung. Man brauche dabei nichts zu reden, sagte er auf die Frage, was er an seinem Beruf am meisten liebe.
    Ich hatte nicht gewußt, daß ein Mann so sein kann. Daß Zuneigung so sein kann. Es ist nicht anstrengend mit ihm. Es ist befreiend, nicht vereinnahmt zu werden. Das hat mich angezogen.
    Was mir zu schaffen machte, als ich ihn kennenlernte: daß man alles erklären muß. Wie kann man - dachte ich oft - Intimität schaffen mit jemandem, mit dem man nicht aufgewachsen ist? Intimität - das hieß plötzlich etwas völlig anderes. Sie ließ sich steuern, indem ich auswählte, was Stéphane aus meiner Vergangenheit wissen sollte. Das machte diese Intimität zu etwas Verfügbarem, dem Willen oder der Willkür Unterworfenem. Und: Ich konnte mich aus ihr zurückziehen in meine verschwiegene Vergangenheit. Aus der Intimität, wie sie zwischen dir und mir bestanden hatte, konnte man sich nicht zurückziehen. Dahinter gab es kein unbekanntes Terrain mehr. Sie war absolut, diese Intimität. Wir waren in ihr vollständig geborgen. Und ihr vollständig ausgeliefert.
    Einmal (es hat sehr lange gedauert, bis es soweit kam) habe ich Stéphane angeschrien: Er solle doch seine verdammte Zurückhaltung aufgeben. Sein Gesicht erstarrte, der Blick zog sich ganz weit zurück. Eine Woche lang war er nicht zu erreichen.
    Manchmal liege ich wach und frage mich: Liegt es nur an ihm? Gebe ich ihm eigentlich genug von mir? Oder ruhe ich mich bei ihm nur aus von

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