Der Klavierstimmer
Schriftzüge: wie ziseliert. Es scheint, daß sie zwar den Stift führen, nicht aber die Tasten der Schreibmaschine anschlagen konnte. Korrekturen über Korrekturen, als wolle sie sich der Gedanken der geliebten und verehrten Mutter in einem unendlichen, unabschließbaren Prozeß der Annäherung versichern. Und jetzt die Überraschung: Maman hat dieses Manuskript überarbeitet, Satz für Satz, Seite für Seite! Zunächst hat sie es einfach sprachlich verbessert, denn Clara, die mit dem Russisch der Mutter und dem Italienisch des Vaters aufwuchs, machte Fehler, wenn es um die Sprache der Kunst ging. (Von GP konnte sie das gebildete Französisch ja nun wirklich nicht lernen!) Doch damit nicht genug: Maman versuchte, das Buch auf den neuesten Stand zu bringen! Wie ihre Notizen zeigen, wollte sie nicht weniger als vier ganze Kapitel anfügen: über Serge Lifar, Margot Fonteyn, Rudolf Nurejev und Maurice Béjart. Es gibt bergeweise Talons von Ausleihzetteln der Genfer Universitätsbibliothek, und auch in der Berliner Staatsbibliothek hat sie ausgeliehen, wenn auch seltener. Bibliotheksausweise, alle paar Jahre ein neuer mit jüngerem Foto. Wenn man die Fotos nebeneinanderhält: eine Verfallsgeschichte.
Maman, das läßt sich fast auf den Tag genau rekonstruieren, hat mit dieser Arbeit sofort nach dem Unfall begonnen, noch in der Klinik, wie es scheint, denn es gibt ausgeblichene Notizen auf der Rückseite von Merkblättern des Inselspitals in Bern. Da war sie neunundzwanzig. Zweiundzwanzig Jahre lang also hat Elenas Manuskript sie begleitet. Wenn man den Text wie ein Archäologe Schicht für Schicht untersucht, wird auch hier eine Geschichte des Verfalls sichtbar: Die Überarbeitung wird immer schlechter, die Schrift fahrig, und vor allem: Das Gedächtnis wird lückenhaft, sie vergißt frühere Korrekturen und Einfügungen, erinnert sich und streicht durch, vergißt wieder, verheddert sich, und so weiter. Zunehmend gibt es auch Tintenkleckse und Flecke, die von verriebener Zigarettenasche stammen müssen. Ab und zu Nagellackspuren, ich stelle mir vor: Sie hat die Nägel frisch lackiert, vergißt, daß sie noch nicht trocken sind, und greift zum Text. Anders ist es bei den Notizen für die geplanten neuen Kapitel. Daran hat sie in guten Zeiten gearbeitet, mit klarer Schrift und klaren Angaben, die sie den Büchern entnahm und säuberlich untereinanderschrieb. Nur eben: Über Notizen ist sie nie hinausgekommen.
Es dämmerte bereits, als wir eine letzte überraschende Entdeckung machten. Die Tschaikowsky-Biographie von Modest, seinem Bruder, hatte bei Papas Büchern gelegen. Als Stéphane sie wegen Désirée Artôt aufschlug, entdeckte er, daß Maman den abgedruckten Briefwechsel zwischen Tschaikowsky und Nadeshda von Meck in allen Einzelheiten verfolgt hat, die blaßblauen Anstreichungen belegen es. Als Lesezeichen hat sie den Leihschein der Zürcher Bibliothek benutzt, mit dem Elena die dreibändige russische Gesamtausgabe der Briefe ausgeliehen hatte.«Ich wette, sie hat sich diese Ausgabe gekauft - auch wenn sie kein Russisch konnte», sagte Stéphane.«Nein», sagte ich heftig, ich weiß nicht warum. Doch Stéphane hatte recht: Unter Claras Büchern fand sich die Ausgabe, unbenutzt, die Seiten kleben noch aneinander. Es ist eine Kassette, und in einer Ecke des Kartons klebt das Etikett der Genfer Buchhandlung, durch die sich Maman die Bücher besorgt hat: Librairie A. Jullien . Unsere Buchhandlung!
Elena Aslanischwili, die vom Rheuma vernichtete Balletteuse, wurde für Maman zu einer Figur, in der sie sich wiederfinden konnte. Der Weg dahin war eine Tragödie. Clara hatte ihre Tochter fürs Ballett interessiert, indem sie ihr von der glanzvollen Karriere der großen Désirée erzählte. Die Tochter möge den Erfolg der Mutter wiederholen - das muß der Wunsch gewesen sein. Als Clara mit achtundvierzig an ihrem Herzfehler starb, war Maman sechzehn. Was Clara gerade noch erlebte: die Fortschritte der Tochter, einen ersten Preis in einem Jugendwettbewerb. Es gibt von Claras Hand ein Album: Fotos von Maman auf den Zehenspitzen, die Arme graziös in der Luft, selbst die Finger schon ausdrucksvoll. Für das Ballett verzichtete Maman auf das Gymnasium. Sie wollte werden wie die berühmte Désirée, ihre Großmutter. Dann kamen wir. Sie war sechsundzwanzig und dachte daran, nach unserer Geburt weiterzumachen und Désirées Leben doch noch zu vollenden. (Wenn ich mir das Alter der Tänzerinnen ansehe, die bei Elena vorkommen:
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