Der Klavierstimmer
die Empfindungen dem Gefängnis und dem Konzentrationslager gegenüber verschmolzen.
In den folgenden Tagen schien ich all diese gefürchteten und gehaßten Wörter als ein Echo mitzuhören, wann immer ein deutsches Wort mit vielen a’s fiel. Du weißt, daß ich Französisch immer lieber hatte als Deutsch. Doch in jenen Tagen begann ich die deutsche Sprache regelrecht zu hassen, weil sie die Sprache war, in der es jene abscheulichen Wörter gab. Ich beschloß, in Zukunft nie wieder an Orte zu gehen, wo deutsch gesprochen wurde und die Gefahr bestand, jene Wörter hören zu müssen. Vor allem aber nicht nach Berlin, in die Stadt, in der sie Papa eingesperrt hatten.
Das Warten auf Dupré wurde zur Qual. Der Besuchstermin, den er ausgemacht hatte, war um vier Uhr. Um Viertel vor fünf war die Besuchszeit zu Ende, das sagte der Anschlag. Danach kamen drei Tage ohne Besuche. Bei deiner Ankunft würde ich dir sagen müssen, daß du Papa erst am Montag sehen konntest. Ich konnte froh sein, daß Donnerstag und nicht schon Freitag war. Vor allem aber, daß Dupré den Fall übernommen hatte.
Den Fall: Wie schrecklich war es gewesen, ihn das sagen zu hören! So ohne weiteres glaube ich das alles nicht. An diese Worte klammerte ich mich, während ich die Besucher betrachtete, die herauskamen, meist Frauen. Ihre Gesichter waren versteinert, in einigen konnte man Spuren von Tränen erkennen. Sie hatten es eilig, sich unter die Passanten zu mischen; die Sprache ihres Körpers zeugte von Scham. Mir gegenüber wartete noch eine andere Frau auf den letzten Besuchstermin. Sie mochte Ende Zwanzig sein und hatte sich herausgeputzt für ihren Besuch, mit Stöckelschuhen, Schmuck und viel Schminke. (War das angebracht?, ging es mir durch den Kopf. Konnte man einem Gefangenen auf diese Weise gefallen wollen? Ich wußte die Antwort nicht; hier verlor alles seine gewohnte Bedeutung.) Sie lehnte an der Wand und hatte die Augen geschlossen. Als sie sie für einen Moment öffnete, trafen sich unsere stummen Blicke.
Es war bereits nach vier, als Dupré kam. Seine warme, sichere Stimme am Telefon hatte mich einen Mann erwarten lassen, den ich sofort mögen würde. Doch es ging mir wie dir später: Zunächst war er mir nicht sympathisch. Die Kleidung zu teuer, die Brille zu chic, die graue Mähne zu sorgfältig gekämmt. Auch der routinierte und joviale Ton, der den früheren Eindruck von seiner Stimme jetzt überdeckte, störte mich. Nur die braunen Augen mit ihrem abwartenden, nachdenklichen Blick mochte ich, und später haben wir ja erlebt, daß er so ist wie die Augen und nicht wie der Rest.
Er war abgehetzt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war auf dem Revier gewesen, hatte das Vernehmungsprotokoll eingesehen und im Gericht nebenan mit dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter gesprochen. Alles schien glasklar: Papa hatte die Tat ohne Umschweife gestanden. Ja, er habe mit Vorbedacht geschossen. Nein, einen Anwalt brauche er nicht. Ob er Antonio di Malfitano gekannt habe? Wer kennt ihn nicht, sagte Papa. Über das Motiv freilich verweigerte er jede Auskunft. Ein so wortkarges Geständnis hätten sie noch nie gehört, hatten die Polizeibeamten gesagt. Und daß ein Mann nach einer derart spektakulären Tat so vollständig gelassen dasaß - das hätten sie nicht für möglich gehalten. Mit geradezu andächtiger Langsamkeit habe er seine Unterschrift unter das getippte Geständnis gesetzt.
Das Ganze sei ihm ein vollständiges Rätsel, sagte Dupré und sah mich fragend an. Mir auch, sagte ich, ich könne es einfach nicht glauben.«Er nahm die Verhaftung und das Verhör so ungerührt hin, daß man meinen konnte, diese Dinge seien ihm vertraut», hatte der Kommissar gesagt. Wieder blickte mich Dupré fragend an. Ich nickte. Ja, sagte ich in Gedanken zu Papa, ja; ein Heimkind können solche Dinge nicht allzusehr überraschen; vor allem, wenn es dem Haß von Gygax ausgesetzt war.
Die Besuchserlaubnis war ein billiger Wisch. Wieder sprangen mich zwei Wörter an: Torkartei und Torbeamter . Ein Besuch von einer halben Stunde war mir gewährt worden. Es werde die ganze Zeit ein Aufseher dabei sein, und es sei verboten, über irgend etwas zu sprechen, das mit der Tat in Verbindung stehe, sagte Dupré, bevor wir hineingingen.«Sie riskieren den Abbruch des Besuchs und ein Besuchsverbot für alle Zukunft, wenn Sie sich nicht daran halten.»
Die Prozedur des Einlassens - ich habe mit aller Kraft versucht, mich den Eindrücken zu
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