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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Das war eine Illusion. Aber trotzdem.) Drei Jahre später der Unfall, der diesen Traum für immer zerstörte. Von Papa ließ sie sich Elenas Text in die Klinik bringen. Die Verschmelzung wurde vollkommen.
    «Wenn sie das Morphium nahm», sagte Stéphane, als wir übernächtigt und still beim Frühstück saßen,«nahm sie es auch gegen Désirées Rheuma.»(Und das vom Mann der vollkommenen Abgrenzung! Ich kenne mich nicht mehr aus. Überhaupt nicht mehr.)

    Wir haben nichts gemerkt. Neunzehn Jahre lang wohnten wir mit Maman zusammen und hatten nicht die geringste Ahnung von ihrem geheimen Leben. Ziehen wir die neun ersten Jahre ab, in denen solche Dinge ohnehin über das Verständnis von Kindern hinausgehen. Es bleiben zehn ganze Jahre, in denen sie an einem Buch arbeitete, ohne daß uns das Geringste aufgefallen wäre. Ich stelle mir vor: In die Bibliotheken ging sie, wenn wir in der Schule waren. Die Bücher, die sie nach Hause brachte, verschwanden im Boudoir, wo sie sich gestapelt haben müssen. Dann setzte sie sich an die Schreibplatte ihres Sekretärs, polsterte die Hüfte mit Kissen ab und ging die fünfhundert Seiten von Elenas Werk durch, Wort für Wort. Als ich am späten Nachmittag aufwachte, hatte ich das Bedürfnis, genauer hinzusehen. Sie hat Clara nicht den geringsten Fehler durchgehen lassen. Und nicht nur Fehler hat sie korrigiert: Auch stilistische Unebenheiten hat sie bemerkt und geglättet. Haben wir gewußt, daß Maman ihre Sprache derart souverän beherrschte? Habe ich es gewußt? Die vielen Stunden, die sie allein zu Hause verbrachte: Was dachten wir, daß sie in dieser Zeit machte? Was dachte ich?
    Papa wußte davon, er hat Maman Elenas Buch ins Krankenhaus gebracht. Warum habe ich angenommen, es gebe nichts, was diese beiden Menschen vor uns geheimhielten? Die verschworene Gemeinschaft zwischen dir und mir, sie war nicht ohne Arroganz.
    Auch im Briefwechsel zwischen Tschaikowsky und Frau von Meck habe ich gelesen. 1204 Briefe hat ihr Tschaikowsky geschrieben, ohne je ein Wort mit ihr gewechselt zu haben! Als das von ihm Befürchtete geschah und sie ihm auf einer Spazierfahrt im Wagen entgegenkam, lüftete Tschaikowsky den Hut - und fuhr weiter. Was Elena daran beschäftigte, können wir nicht wissen. Was bedeutete diese Art von Nähe, die körperliche Gegenwart nicht ertrug, für Maman? Schimmert hier etwas von ihren Gefühlen für Papa durch? Oder hat sie sich nur Elenas wegen damit beschäftigt?

    Als Stéphane heute morgen gegangen war, kam es mir vor, als ginge ein Riß mitten durch mich hindurch: Ich war glücklich über diese Nacht voll von Einmischung und Gemeinsamkeit, und ich war unglücklich darüber, Papa und Maman weggegeben zu haben.
    Konnte Stéphane sich einmischen, weil ich durch das Schreiben anders geworden bin? Weil er spürt, daß ich Einmischung jetzt ertrage? Hat er sich bisher nicht eingemischt, weil ich so vollständig verwickelt war in die Vergangenheit mit dir? Bin ich das nicht mehr?
    Es kann nicht stimmen, daß Guntram von Richard Strauss das helle Lila deshalb hat, weil sich hier das helle Rot eines bloßen Achtungserfolgs mit dem hellen Blau mischt, das Papa verteilt hat, wenn die Oper später nie mehr aufgeführt wurde. Diese Oper nämlich wurde nach einer Pause von sechsundvierzig Jahren noch einmal aufgeführt. Als ich das und noch einige andere Irrtümer Stéphanes entdeckt hatte, kehrte allmählich das Gefühl zurück, daß Papas verrücktes System wieder bei mir ist und nicht mehr bei ihm. Ich mußte es mir zurückholen. Wie froh ich bin, daß Cesare Cattolica in keinem Buch vorkommt!

    Es ist etwas mit meinem Erinnern geschehen. Wenn ich jetzt in Gedanken nach Berlin zurückgehe und mich Maman gegenüber finde, ist es nicht mehr so, wie es noch gestern war. Jetzt ist Maman die Frau, die mit Désirée Aslanischwili lebte und ihr Buch zu vollenden versuchte. Eine Frau, die stilistischen Nuancen nachsann. Eine Frau, die in den Universitätsbibliotheken einund ausging und sich die Geschichte des Balletts nach 1923 erarbeitete, dem Jahr, in dem Elenas Manuskript aufhört. Eine Frau, die sich mit diesen Dingen in ihrem Zimmer, an ihrem Sekretär verbarrikadierte und gegen die Kinder verteidigte, die sie mit Verlassenheit bestraften, weil sie ihre Nähe gesucht hatte. Hätte ich all das gewußt, als ich sie an jenem Donnerstag vor zweieinhalb Wochen sah: Wie anders hätte ich es erlebt!

    Maman wußte nicht, wohin sie Papa gebracht hatten. «Il est en prison» war

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