Der Klavierstimmer
und vermochte nur mit Mühe zu schlucken. Papas Konturen verschwammen mir vor den Augen.«Wie geht es Chantal?»fragte er. Er schwieg, als ich ihm stockend erzählte, daß ich nicht gewagt hatte, ihr etwas von meinem Besuch zu sagen, geschweige denn, sie zu fragen, ob sie mitkommen wolle.«Sie braucht jetzt Ruhe», sagte er schließlich.«War Doktor Rubin bei ihr?»Der Arzt werde gegen Abend kommen, sagte ich.«Und Patrice?»
Papa zündete eine Zigarette an und warf das brennende Streichholz auf den Boden. Als der Aufseher protestieren wollte, schnitt er ihm das Wort ab. Nach dem ersten Zug hustete er lange, es war ein richtiger Anfall. Das keuchende Einatmen war begleitet von einem Pfeifen. Er faßte sich ans Herz.«Die Pumpe», sagte er und mußte wieder husten. Eine Verwandlung war mit Papa vorgegangen. Wie er mir da gegenübersaß, war er nicht mehr Monsieur Frédéric, sondern das groß gewordene Heimkind, dem die derbe Sprache näher lag als die feine und das einen grobschlächtigen Gefängnisaufseher mühelos zum Schweigen bringen konnte. Ich weiß nicht, wie es kam, aber plötzlich war es Papa, der im Raum die Autorität hatte. Ich war stolz auf ihn, auch wenn er mir ein bißchen fremd vorkam.
Du hast es doch nicht wirklich getan, Papa; oder? Mit hämmerndem Herzen saß ich da, sah auf Papas Hände und versuchte, die verbotene Frage zu unterdrücken. Sie staute sich in mir, und mit jeder Sekunde wurde der Druck größer. Schließlich siegte ich; vielleicht auch deshalb, weil ich mich vor einer bestätigenden Antwort fürchtete. Papa sah mir den Kampf an. Eine Weile herrschte Schweigen, er rauchte und schnippte Asche von der Zigarette. Dann sagte er unvermittelt: «Tu dois comprendre: c’est mieux comme ça . » Er sprach es abgewandt, zum Fußboden hinunter, und blickte mich erst an, als er mit dem Satz fertig war. Der Aufseher fühlte sich überrumpelt und schnappte nach Luft um einzuschreiten. Da schnippte Papa Asche in seine Richtung, schlug die Beine übereinander, als sitze er in einem Fauteuil, und fragte, was ich ihm in der Tasche mitgebracht habe. Ich bewunderte und liebte ihn für seine Stärke und Geistesgegenwart, auch wenn ich die Botschaft hinter den französischen Worten rätselhaft fand. Ich nahm Notenpapier, seinen alten Füller und eine neue Biographie über Puccini aus der Tasche. Der Aufseher streckte die Hand danach aus, aber die französischen Worte hatten einen Pakt der Stärke zwischen Papa und mir geschaffen, ich stand auf und brachte ihm die Sachen.
«Puccini», sagte er,«der Erfolgreiche. Über Cesare Cattolica wird nie jemand schreiben.»Er nahm das Notenpapier und den Füller in die Hand.«Danke», sagte er,«ich werde es versuchen. Ob es hier drin allerdings geht … Aber jetzt ist es ja nicht mehr wichtig.»
Plötzlich war alle Stärke aus ihm gewichen, er schloß die Augen gegen die Tränen und mußte nachher trotzdem mit dem Hemdsärmel übers Gesicht wischen.
«Michael Kohlhaas», sagte ich,«Maman hat mir die Partitur gezeigt.»
«Ja», sagte er leise,«ja.»
Die Tür ging auf, und Dupré erschien; hinter ihm, auf dem Flur, konnte ich die Uniform eines weiteren Aufsehers erkennen. Ich stand auf und reichte Papa die Tasche, in der noch die mitgebrachten Kleider waren. Er nickte. Der Aufseher riß sie ihm aus der Hand.«Von Ihnen, Delacroix, lasse ich mich nicht für dumm verkaufen», zischte er. Deelakroi: Eine derart häßliche Aussprache unseres Namens hatte ich noch nie gehört. Der Aufseher begann in den Sachen zu wühlen. Da traten wir aufeinander zu und umarmten uns. Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Papa preßte mich so fest gegen sich, wie er es noch nie getan hatte.
«Das alles hier ist nicht so schlimm, wie du denkst», flüsterte er mir ins Ohr.«Paß gut auf Chantal auf.»
Wie ich hinausgelangt bin, weiß ich nicht mehr. Blind vor Tränen überquerte ich die Straße und ging durch den Park. Ich war froh, daß ich nicht in einen sonnigen Tag hatte hinaustreten müssen. Der Regen durchnäßte mich bis auf die Haut, doch ich war dankbar dafür und fühlte mich darin geborgen. Den Blick hob ich erst wieder, als ich sicher war, das Gefängnis nicht mehr zu sehen. Ich spürte die rauhe Wärme von Papas Händen und hörte seine Stimme in meinem Haar. Eine Stunde oder länger ging ich immer geradeaus, bevor ich ein Taxi nahm.
Heute wissen wir, was Papa so stark machte, so unglaublich stark. Damals lag ich bis in den Morgen wach und durchlebte
Weitere Kostenlose Bücher