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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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verschließen und dabei sozusagen nicht anwesend zu sein. Am schwierigsten war das bei der Leibesvisitation. Erst als ich in dem Besuchsraum mit den vergitterten Fenstern stand, machte ich die Augen wieder richtig auf. Diese erstickende Schäbigkeit! Die dunkelgrüne, schmutzig wirkende Farbe bis auf Schulterhöhe; darüber geweißelt, aber mit braunen Schlieren, die mich an Kot erinnerten. Der Boden aus Linoleum, mit unzähligen Druckspuren von Tischen und Stühlen. Der Geruch von kaltem Rauch. Der billige Tisch aus hellem, schlecht lackiertem Holz; die harten Stühle; Aschenbecher aus Plastik mit schwarzen Brandspuren. Die Beleuchtung schummrig und grell zugleich, ich hätte nicht gedacht, daß es ein derart paradoxes Licht geben könnte.
    Niemals werde ich den Augenblick vergessen können, in dem Papa hereingeführt wurde. Er trug die Sachen vom Vorabend: ein weißes Hemd mit Biesen, eine schwarze Hose mit glänzendem Einsatz an den Nähten, glänzende schwarze Schuhe. (Heute weiß ich: Es waren die Kleider, die er für die Aufführung in Monte Carlo gekauft hatte und dann nie tragen konnte. Die Smokingjacke, erklärte mir Dupré später, hatten sie zur Untersuchung auf Schmauchspuren ins Labor geschickt.«Geständnisse können widerrufen werden», sagte er, als ich fragte, warum das noch nötig sei. Ich liebte ihn für die Hoffnung, die mir seine Worte gaben, und ich haßte ihn für die Sachlichkeit in seiner Stimme, die mir Papa zu einem unter vielen Fällen zu degradieren schien.) Hemd und Hose waren zerknittert von der Nacht in der Zelle. Die Fliege hatte Papa abgenommen, der Hemdkragen stand offen. Der Kopf mit dem schlohweiß gewordenen Haar saß schwer auf dem faltigen Hals, nur das Kinn zeigte noch aufwärts und riß die unrasierten, bleichen Falten nach oben, sie schienen gespannt bis zum Zerreißen. Die Ärmel hatte er hochgekrempelt. Er fror, aber es schien ihm nichts auszumachen. Er wollte nicht - auch das berichtete Dupré später -, daß ich ihn in der Gefängnisjacke sah, die sie ihm gegeben hatten.
    Stumm gingen wir aufeinander zu. Ich spürte, wie sich mein Gesicht auflöste, und der letzte Schritt, bevor ich ihm um den Hals fiel, war beinahe ein Sprung. Kaum hatte ich mit der Wange seine rauhen Bartstoppeln berührt, schloß sich die Hand des Aufsehers wie ein Eisenring um meinen Arm und zog mich weg. Es war derselbe Griff, mit dem er Papa beim Hereinführen festgehalten hatte. Vielleicht ist es Einbildung, aber der Mann schien zu erschrecken und einen Schritt zurückzuweichen, als ich ihn voller Zorn ansah.«Sie dürfen ihm die Hand geben», sagte er und ließ mich los. Papa nahm meine Hand in die seine, die immer ein bißchen rauh war wie die Hand eines Handwerkers. Ganz plötzlich dann, so daß der Aufseher keine Chance hatte dazwischenzugehen, streckte er auch die andere Hand aus und fuhr mir übers Haar. «Mon oiseau», sagte er.
    Wie lange war es her, daß er mich so genannt hatte! Niemand wußte von dieser Anrede, bei der seine Stimme einen zärtlichen Klang bekam wie sonst nie. Auch du wußtest nichts davon. Als kleines Mädchen hatte ich mich, nachdem Papas Geburtstagsfeier vorüber war, ins Arbeitszimmer geschlichen und ihm einen bunten Phantasievogel gebracht, den ich so sorgfältig gemalt hatte wie noch nie etwas zuvor. Als ich ihn verließ, gab er mir einen Kuß und flüsterte mir ins Ohr: mon oiseau . Und so hatten wir unser Geheimnis, auf das ich sehr stolz war.
    Ich hatte angenommen, der Aufseher würde abseits stehen, während wir am Tisch saßen. Als er sich nun an die Längsseite des Tischs setzte, hatte ich für eine Weile das Gefühl zu ersticken. Stell dir vor: Jeder Blick, jedes Wort, das Papa und ich austauschten, mußte an seinem feisten Gesicht mit den farblosen Augen vorbei! Die ganze Zeit über wurde ich von der Vorstellung verfolgt, daß sein Blick unsere Blicke in der Mitte ihres Wegs durchschnitt, so daß sie nicht mehr ankamen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht gewußt, was Haß ist, wirklicher Haß. Und noch etwas anderes hatte ich nicht gewußt: daß die Vernichtung von Intimität, wie sie in jenem schäbigen Raum stattfand, eine der Hauptquellen für Haß ist. Von Zeit zu Zeit zog der Mann den Rotz so geräuschvoll hoch, daß es nur Absicht sein konnte, und dann verzogen sich seine wulstigen Lippen zu einem verächtlichen Grinsen. Draußen hatte ich mir eine lange Liste von Dingen zurechtgelegt, die ich Papa sagen wollte. Jetzt brachte ich kein Wort heraus

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