Der Klavierstimmer
das einzige, was sie sagte, gleichgültig wie eindringlich ich die Frage stellte. (Am Telefon war sie an dem Satz fast erstickt; jetzt klang er wie eine leere Formel. Es war, als habe sie den Satz von sich abspalten müssen, um das Entsetzen, das ihn umgab, nicht jedesmal von neuem durchleben zu müssen.) Stell dir vor: seine Mutter fragen, in welchem Gefängnis der eigene Vater ist! Noch heute höre ich mich diese Frage stellen. Ich weiß, daß ich es war, die fragte; doch höre ich es, als habe jemand anderes die Frage ausgesprochen. Daß Maman es nicht wußte, sich nicht darum gekümmert hatte - es war beinahe unmöglich, sie deswegen nicht zu hassen.
Es dauerte, bis ich darauf kam, Ralf Liebermann anzurufen. (Du weißt warum.) Zuvor hatte ich Maman gefragt, ob sie einen Anwalt benachrichtigt habe. «Un avocat?» hatte sie zerstreut und verständnislos gesagt. Nach einigen Minuten dann: «Il faut demander à papa.» Daß sie von GP sprach, der seit acht Jahren tot war, habe ich erst nach einer Weile begriffen. «Oui, Maman, oui», sagte ich und holte ihr eine Decke, denn nun zitterte sie.
Ich ging ins Boudoir und zog die Schublade des Schminktischs auf. Da lag es, das dicke Notizbuch mit Angaben über das ganze Netz der geschäftlichen Beziehungen, die GP unterhalten hatte. Weißt du noch, wie sehr wir als Kinder das Buch mit dem Einband aus schwarzem Leder und GPs goldenen Initialen bewunderten? Es war schön und furchtbar wichtig, ein Symbol für die Welt der Erwachsenen. Später, als uns GPs Geschäfte zweifelhaft vorkamen, bekam es etwas Anrüchiges und Gefährliches. GP muß die Veränderung bemerkt haben; mit einemmal lag das Buch nicht mehr auf dem Schreibtisch, wenn wir kamen, und bei einem der letzten Besuche sah ich, wie er es hastig in die Schublade gleiten ließ. Jetzt blätterte ich darin auf der Suche nach einem Berliner Anwalt. Das einzige, was ich in dem Chaos von Abkürzungen, Zahlen und Pfeilen ausmachen konnte, war die Nummer des Notars, der den Kauf des Hauses geregelt hatte, und der lebte ja nicht mehr. Ich legte das Buch weg, und nach einer Weile fiel mir Liebermann ein.
«Er ist einer der besten Strafverteidiger von Berlin», sagte Liebermann, als er mir Daniel Dupré empfahl. Dessen Sekretärin wollte mich abwimmeln, doch der Anwalt stand offenbar daneben, als sie meinen Namen wiederholte, und griff selbst zum Hörer. Seine Stimme strahlte bei aller beruflichen Bestimmtheit Wärme aus.«Beruhigen Sie sich», sagte er, als er hörte, wie meine Worte durch Tränen unterbrochen wurden,«ich werde mein Möglichstes tun. Ich kenne Ihren Vater, er war mehrmals bei uns zum Stimmen. Wir mochten ihn. Und so ohne weiteres glaube ich das alles nicht.»Dann fiel jenes Wort: MOABIT. Nie hätte ich gedacht, daß ein Wort mich derart erschrecken könnte. Neun Jahre hatte ich in Berlin gewohnt, und trotzdem. Jetzt war es nicht mehr das frühere Wort, das ich manchmal beiläufig und gedankenlos gehört und ausgesprochen hatte. Es war ein vollständig neues Wort, der Name für den Ort, an dem sie Papa in eine vergitterte Zelle gesperrt hatten. Ich kannte die Geschichte des Namens nicht, er sprach nicht für sich selbst, und gerade deshalb konnte sein nackter Klang all den Schrecken in sich aufnehmen, der mit dem Gedanken an Papas Lage verbunden war.
JUSTIZVOLLZUGSANSTALT: Als ich das Wort neben dem Eingang las, erfaßten mich Schwindel und Übelkeit, ich floh in den Park gegenüber und übergab mich. Es war nicht das erste Wort, das an diesem Tag so auf mich wirkte. Dupré hatte mir die Adresse genannt: Alt-Moabit 12A. Als ich ins Taxi einstieg, war ich froh, diese Adresse nennen zu können, statt sagen zu müssen: das Gefängnis. Der Fahrer stutzte, sah mich im Rückspiegel an und fragte:«Die Haftanstalt?» Haft, Anstalt, Verhaftung: Nie wieder will ich diese Wörter hören, lesen oder denken. Ich war nicht darauf vorbereitet, ihnen einmal so wie jetzt gegenübertreten zu müssen, und so sanken sie fürchterlich tief in mich hinein.
Als ich im Park wieder zu mir gekommen war, merkte ich, daß ich mich direkt vor der Gedenktafel für Carl von Ossietzky übergeben hatte. Als ob überhaupt nur dieses eine Wort auf der Tafel stünde, fiel mein Blick auf vier Buchstaben: Haft . Der restliche Text, so empfand ich es in meiner Wehrlosigkeit, war ohne Bedeutung und verschwamm im Unbestimmten. Einen Moment lang setzte meine Fähigkeit, zwischen der einen und der anderen Haft zu unterscheiden, vollständig aus,
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