Der kleine Bruder: Der kleine Bruder
der Fabriketage spähte. Er war barfuß, und der Boden war aus Beton und verdammt kalt. Frank glaubte, das Telefon gestern abend im Küchenbereich gesehen zu haben, und dahin ging er nun, und seine nackten Füße auf dem kalten Boden machten nicht nur, daß er fror, sondern auch, daß er dringend aufs Klo mußte, und das Klo lag auf dem Weg, also legte er dort erst einmal einen Zwischenstopp ein und kam erst einige Zeit später im Küchenbereich an; dort saß Chrissie wie am Abend zuvor mit einer Tasse mit was Heißem drin in den Händen und mit angezogenen Füßen auf einem Klappstuhl und zeigte, als sie ihn sah, mit dem Kopf in die Richtung, in der sich das Telefon befand, es stand auf einem Sims, der die Wand dort auf ganzer Länge in Bauchnabelhöhe säumte, und hatte Frank heimlich gehofft, daß seine Mutter inzwischen aufgegeben und wieder aufgelegt hatte, so wußte er jetzt schon, daß daraus nichts werden würde, denn bereits aus einigen Metern Entfernung konnte er deutlich hören, wie seine Mutter die Wartezeit mit regelmäßigen Hallo-Rufen überbrückte.
»Mutter, wie geht’s?«
»Wie soll’s mir schon gehen?! Bist du das, Frank?«
»Ja klar, wer denn sonst?«
»Hätte ja auch Manfred sein können, ich kann eure Stimmen immer nicht auseinanderhalten, ihr habt beide die Stimme von eurem Vater geerbt, das kann man schon mal mit Sicherheit sagen.«
»Ja«, sagte Frank. »Wie geht’s denn so?«
»Mir? Wie soll’s mir schon gehen?! Mir geht’s doch immer gleich! Außerdem hast du das eben schon mal gefragt.«
Tja, dachte Frank, da steht man nun, gerade erst aufgewacht und schon gemaßregelt. Es war neu für ihn, von seiner Mutter angerufen zu werden. In Bremen hatte es dazu keine Gelegenheit gegeben, in der Kaserne konnte man nicht angerufen werden, und in Franks letzter Wohnung hatte es kein Telefon gegeben.
»Naja, es interessiert mich eben«, sagte er ungewollt heftig, »oder ich bin höflich oder sowas, was weiß ich, gibt’s ja auch noch, Höflichkeit, außerdem hast du mir eben nur eine ausweichende Antwort gegeben, da wird man eine Frage ja wohl noch wiederholen dürfen!«
»Ja, ja, reg dich ab, bist ein guter Junge, mir geht’s prima, ich wollte auch nur mal kurz anrufen und fragen, wie’s
euch so geht, ich komme doch gerade von der Arbeit zurück, wo ist überhaupt Manfred?«
»Der ist nicht da.«
»Wie, der ist nicht da?! Das hat der andere eben auch schon gesagt, so ein Quatsch! Was soll das denn, der ist nicht da?! Was ist das denn für ein Benehmen?«
»Wieso Benehmen? Was hat das denn mit Benehmen zu tun?«
»Na, der weiß doch, daß du kommst, oder nicht?«
»Nein, ich hab’ ihn doch nicht erreicht, das Telefon war doch bis eben noch abgestellt!«
»Der wußte gar nicht, daß du kommst?«
»Nein, ich konnte ihn ja nicht anrufen.«
»Und dann bist du da trotzdem einfach hingefahren?«
»Ja.«
»Na, du hast Nerven!«
»Naja, so schlimm ist das auch wieder … «
»Und dann ist der gar nicht da?« unterbrach ihn seine Mutter.
»Nein, sag ich doch!«
»Wo ist der denn?«
»Weiß ich nicht. Das weiß hier keiner.«
»Aha…!«
Seine Mutter schwieg, und Frank wußte auch nicht, was er sagen sollte. Er war einerseits froh, mit jemandem aus der Familie zu sprechen, das hatte etwas Beruhigendes, gerade wenn es um Manni ging, oder Freddie, fügte er in Gedanken hinzu, da muß man sich langsam mal entscheiden, dachte er, die Tendenz geht ja wohl auf lange Sicht eher zu Freddie, gestand er sich in Gedanken ein, aber andererseits war er auch nicht ganz glücklich darüber, nach gerade mal einem Tag in der neuen Stadt gleich schon wieder seiner Mutter Rede und Antwort stehen zu müssen, es ist ein
bißchen wie mit Wolli, dachte er, es wäre vielleicht gut, wenn man die alle mal für eine Zeitlang von der Backe hätte.
»Da stimmt doch was nicht! Da stimmt doch irgendwas nicht!« sagte seine Mutter schließlich.
»Was soll denn da nicht stimmen?« sagte Frank. »Er kann doch mal wegfahren, was weiß ich, vielleicht in Urlaub, oder was Berufliches mit seinen Skulpturen oder Objekten da, was weiß ich…?!«
»Nee!« sagte seine Mutter im Brustton der Überzeugung. »Nee, ich kenne Manfred, da stimmt was nicht. Der wohnt doch mit denen da zusammen oder nicht?«
»Ja, natürlich.«
»Und dann weiß keiner, wo der hin ist? So ein Quatsch. Ich kenn doch Manfred, der würde nicht mal einkaufen gehen, ohne da vorher ein großes Ding draus zu machen, der war doch als Kind schon
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