Der kleine Bruder: Der kleine Bruder
seinem Element. Er rückte sich ein kleines Stehpult zurecht, stellte einen Aschenbecher darauf, zündete sich eine Zigarette an, steckte sie sich in den Mund und begann seelenruhig, an dem Mikrofonständer herumzuschrauben und zu drehen und zu biegen, bis er endlich so aussah, wie H.R. es sich vorstellte, und es war seltsam, wie er sich das vorstellte, denn er mußte sich weit vorbeugen, über das Stehpult hinweg, um an das Mikrofon ranzukommen, und das tat er nun und rief in das Mikrofon: »Hallo, hallo, hallo!«
Es kam zu einzelnen Lachern und Gejohle, und Frank nutzte die aufgelockerte Stimmung unter den Leuten, um sich von Jürgen und P. Immel weg zum Tresen zurück-zukämpfen, da war zwar kein Hocker mehr frei, aber er fand einen Platz an der Seite vom Tresen, dort war es nicht mehr so eng, aber dafür sah man auch nicht sehr gut, was auf der Bühne geschah, weil die Leute mit den Hockern auf den Fußrasten standen und einen Großteil der Sicht versperrten.
»Kann ich ein Bier haben?« sagte Frank.
Klaus gab ihm eins und sagte »Zweifünfzig«. Frank kramte in seinem Geld, aber Karl haute Klaus auf die ausgestreckte Hand und sagte: »Hör auf damit, das ist doch Frankie!«
H.R. sagte seine ersten Worte: »Ich bin’s!« rief er fröhlich ins Mikrofon. »Euer lieber H.R.!«
Darauf wurde gejohlt, und einzelne Bierdeckel flogen in Richtung Bühne. H.R. zog einen Zettel aus der Tasche, entfaltete ihn und sagte: »Ich werde euch zuerst eine Elegie vortragen, das ist eine Mischung aus Liebes- und Trauergedicht… «
»Quatsch!« rief jemand laut und deutlich dazwischen. »Das ist totaler Quatsch!«
»Halt’s Maul, Rüdiger!« H.R. drohte mit dem Finger. »Du bist ein dummer, ungezogener Junge.«
Edith begann auf einer Orgel zu spielen.
»Also, ich werde euch jetzt eine Elegie vorlesen«, sagte H.R., »und Rüdiger kann uns ja hinterher all das erzählen, was er bei seinem Friseur nicht mehr losgeworden ist!«
Aus der Gegend um Rüdiger kam Hohngelächter, und es flogen wieder Bierdeckel. Von weiter vorne hörte man Rufe, die sich wohl gegen Rüdiger wandten, denn nun flogen auch Bierdeckel in die entgegengesetzte Richtung. H.R. grinste und las von seinem Blatt ab:
»Nimm deine Lippen, den Schweiß … «
»Scheiße!« sagte Klaus, »ich glaub, ich gehe, mir reicht’s! «
»… den Geruch deines Körpers …«
»Geh nicht«, sagte Karl, »ich brauch dich noch!«
» … So wie am Morgen im Smog deines Atems er fault!«
»Ich hab keinen Bock auf diese Scheiße!«
»Kotze, sie fliegt und mit ihr… «
»Niemand hat Bock auf diese Scheiße, und trotzdem sind alle da, hast du mal überlegt, warum, Klaus?!«
»… die Hoffnung auf sexy…«
»Warum?«
»…Klatschend aufs Pflaster …«
»Weil sie ihre Pflicht tun! Alle! Auch Frank hier! Meinst du, der macht das gerne?«
»… Wo breiig die Pfütze sich formt!«
»Das verstehe ich nicht. Wieso Pflicht? Welche Pflicht denn? Das ist doch Scheiße, Erwin muß bescheuert sein!«
H.R. machte eine Pause, und auch die Musik verstummte. Es gab kräftigen Beifall und Hoch- und Buhrufe, H.R. verbeugte sich nach links, rechts und zur Mitte hin, bevor wie auf Kommando ein Regen von Bierdeckeln auf ihn niederging. Edith fing wieder an, ihre Orgel zu spielen.
»Das ist kein Argument, daß Erwin bescheuert ist«, sagte Karl, »deswegen kannst du mich jetzt hier doch nicht alleine lassen, Klaus.«
»Ich gehe! Da passiert noch was, ich weiß das!«
»Ja, aber du bist doch in Sicherheit, Klaus, dir kann doch nichts mehr passieren, da haben wir doch schon drüber gesprochen.«
»Du hast da drüber gesprochen, nicht wir, du hast da drüber gesprochen, aber ich glaub da nicht dran, ich geh jetzt!«
»Klaus! Du bist im Dienst! Guck dir mal Frankie hier an…«
»Frank!« verbesserte Frank.
»Frank, meinetwegen, der war bis eben noch Soldat, meinst du, der würde einfach abhauen, wenn ihm die Granaten um die Ohren fliegen?«
»Ja«, sagte Frank, »das schon!«
»Fang du nicht auch noch so an. Das ist wie in det Geisterbahn«, sagte Kar!. »Jetzt sind alle eingestiegen, und der Bügel geht runter, und dann müssen das auch alle bis zu Ende mitmachen, den Scheiß hier, ich glaube, Erwin ist echt ein Fan von H.R., das muß man sich mal vorstellen!«
Das Interessanteste an dieser Unterhaltung war für Frank, daß sie dabei die ganze Zeit arbeiteten, sie teilten Getränke aus und nahmen Bestellungen und Geld entgegen und führten dabei mit jeweils angepaßter
Weitere Kostenlose Bücher