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Der kleine Bruder: Der kleine Bruder

Der kleine Bruder: Der kleine Bruder

Titel: Der kleine Bruder: Der kleine Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Regener
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Meinung, schon ist man in die Falle gegangen, dachte er.
    Klaus sah das anders, Klaus hatte wohl schon lange eine klare Meinung, denn als es wieder ganz still geworden war und H.R. die ungeteilte Aufmerksamkeit nutzte, um sich erst einmal in Ruhe eine Zigarette anzuzünden, das dazu benutzte Streichholz auszupusten und sorgfältig und mit großer Geste in den Aschenbecher auf seinem kleinen Rednerpult zu legen, stieg Klaus hinter dem Tresen auf eine leere Bierkiste, formte die Hände vor dem Mund zu einem Trichter und schrie: »H.R., du bist ein Scheißdichter, was du machst, ist unbegabter Dreck, und du solltest dich schämen!« Dann stieg er schnell wieder tunter und ging hinter dem Tresen in Deckung.
    H.R. stutzte, erstarrte regelrecht, und Frank glaubte sehen zu können, wie es in ihm arbeitete, das war jedenfalls nicht abgesprochen, das erwischt ihn jetzt kalt, dachte Frank, so hat er sich die Kunst nicht vorgestellt, und das Publikum auch nicht, dachte er, denn auch dies war auffällig: Auf Klaus’ Zwischenruf hin lachte niemand und niemand zollte ihm Beifall, es gab nur ein allgemeines Raunen, und alle starrten gebannt aufH.R., der jetzt eindeutig unter Zugzwang stand.
    Er überlegte nicht lange, sondern griff nach dem Aschenbecher, in den er eben gerade noch das Streichholz gelegt hatte, und warf ihn in Richtung Tresen, und die Phalanx der dort auf den Fußrasten ihrer Barhocker stehenden Zuschauer geriet in Unordnung, einige Leute warfen sich nach links, andere nach rechts, und nur ein Sekundenbruchteil später kam der Aschenbecher auch durch die entstandene Lücke geflogen. Er setzte einmal auf dem Tresen auf, wie ein flacher Kiesel auf der Oberfläche des Vahrer Sees, wie Frank in diesem Moment komischerweise, wie er fand, dachte, und flog dann weiter und genau dem aus seiner geduckten Stellung gerade wieder auftauchenden Klaus an die Stirn.
    Klaus schrie auf, aber es war nicht nur ein Schmerzens-, sondern auch und vor allem ein Zornesschrei, so klang er jedenfalls für Frank, und es war auch kein wortloser Schrei, Frank glaubte zu hören, daß in diesem Schrei die Worte »H.R., ich bring dich um!« untergebracht waren, und dann krümmte sich Klaus vornüber, und zwischen den Fingern der linken Hand, die er auf seine Stirn gepreßt hielt, tropfte Blut hervor, und dann stürmte Klaus los, an Frank vorbei und aus dem Tresenbereich heraus ins Publikum, wo er sich blutverspritzend und mit geballten Fäusten zwischen die Leute drängelte, der will sicher zur Bühne, dachte Frank noch, dann stand schon Kar! vor ihm und brüllte ihn an, daß er auf den Tresen aufpassen solle, und als Frank nicht gleich reagierte, nahm Kar! ihn bei den Schultern und schubste ihn hinter den Tresen, und dann verschwand auch er in der Menge, und Frank hatte, wie es aussah, schon wieder einen Job.
    Im Moment war allerdings nicht viel zu tun, die Leute wollten jetzt nichts zu trinken bestellen, sie wollten sehen, was sich auf der Bühne abspielte, sie stiegen auf ihre Stühle und Barhocker, und Frank sah sogar jemanden, der versuchte, auf den Tresen zu klettern, und das war dann auch die erste Tat in seinem neuen Job, daß er diesen Mann mit einem Stoß vor die Brust daran hinderte, auf den Tresen zu klettern, danach nahm er erst einmal alle Flaschen und Gläser vom Tresen, da waren die ersten schon heruntergefallen, da gab es einiges aufzuräumen, und das ist sowieso mal Zeit, fand Frank, daß hier mal aufgeräumt wird, in seinen Augen sah es hinter dem Tresen aus wie bei Luis Tren-ker im Rucksack, wie er es in Gedanken und im Gedenken an seine Grundausbildung nannte, und dann spülte er erst einmal in Ruhe die Gläser ab, und die leeren Flaschen stellte er in die leeren Kästen, die dafür überall herumstanden und ihm den Platz wegnahmen, und dann öffnete er alle Kühlschränke und -schubladen und schaute nach, was wo war, versuchte sich einzuprägen, welche Schnapsgetränke wo an der rückwärtigen Wand hingen, und solcherart beschäftigt, ignorierte er völlig das Chaos um ihn herum, das allerdings ein gewaltiges und gewalttätiges Chaos sein mußte, wenn man nach dem Lärmpegel ging, den es verursachte. Irgendwann, er hatte gerade bei sich hinterm Tresen alles einigermaßen unter Kontrolle, tauchte Karl wieder auf, und Frank hatte schon Angst, daß der ihm seinen neuen Arbeitsplatz gleich wieder wegnehmen könnte, aber Karl sagte nur, daß er jetzt mit Klaus ins Urbankrankenhaus fahren wolle.
    »Schon wieder«, sagte Frank.

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