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Der kleine Bruder: Der kleine Bruder

Der kleine Bruder: Der kleine Bruder

Titel: Der kleine Bruder: Der kleine Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Regener
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Lautstärke ihr Gespräch, sie arbeiteten völlig mechanisch und richteten nie das Wort an ihre Kunden, die sich jetzt, wo H.R. eine kleine Pause machte und Edith ihre Musik spielte, lebhaft auf der anderen Tresenseite drängelten und ihre Bestellungen durcheinanderschrien, winkten und sonstwas taten, um die Aufmerksamkeit von Klaus und Kar! auf sich zu ziehen; die beiden mischten derweil Getränke, entkorkten Flaschen, gossen Gläser voll und kassierten die Leute ab, wobei sie wortlos die hingehaltenen Scheine entgegennahmen und das Wechselgeld herausgaben, sie machten das alles mit traumwandlerischer Sicherheit und völlig nebenbei und führten dabei ihre seltsame Unterhaltung.
    »Kann ja sein, daß Erwin ein Fan von H.R. ist, aber warum ist er dann nicht hier?« sagte Klaus. »Warum arbeitet er jetzt nicht? Warum läßt sich nicht Erwin mal zur Abwechslung von H.R. blutig schlagen?!«
    »Niemand hat dich blutig geschlagen, Klaus, H.R. hat dich doch gar nicht gemeint gestern, das war doch nichts Persönliches! «
    »Ich würde echt lieber gehen.«
    »Kannst du nicht bringen, Klaus!«
    »Scheiße, ich hab da kein gutes Gefühl bei…«
    Auf der Bühne klopfte H.R. bei laufender Musik gegen das Mikrofon, und die Leute drehten sich um, um nichts zu verpassen.
    »Rache ist Blutwutst«, schrie H.R. ins Mikrophon, »aber Blutwurst ist auch Blutwurst, das machen sich die wenigsten klar!«
    Dafür gab es wieder Beifall und Gejohle und Buhrufe.
    »Quatsch!« schrie wieder der Mann, den H.R. zuvor als Rüdiger angesprochen hatte. »Rache ist Rache, Blutwurst ist Blutwurst!«
    »Nein!« schrie H.R. ins Mikrofon, daß allen die Ohren klingelten. »Rache ist Blutwurst, das ist Identität!«
    »Am Arsch!« schrie Rüdiger. »Du hast ja überhaupt keine Ahnung!«
    »Halt’s Maul, oder ich schlag dich tot!« rief von irgendwo P. Imme!.
    »Halt du das Maul, Immel, oder ich bring mich selber um!«
    Alle lachten. Edith drehte ihre Orgelmusik lauter, und H.R. hob einen Zettel vor die Augen.
    »Im Roten Mond«, schrie er und machte eine Kunstpause, während der er am Papier vorbei wütend in den Raum starrte. Die Musik brach ab, und der Saal wurde still.
    »Scheiße!« rief Klaus in die Stille hinein.
    »Pst!« riefen mehrere Leute und drehten sich dabei nach ihm um. Klaus ging hinter dem Tresen in die Hocke und fummelte an seinen Schnürsenkeln.
    »Im Roten Mond - für Oma!« rief H.R. und machte wieder eine Kunstpause.
    »Nur Kotz und Blitz Kotzblitz, Oma, verschnittene Lieder Verbogene Jalousien deiner Seele Wär ich krank, ich wäre wie du Bin ich’s nicht, bin ich schon tot Gott, du alte Karpatenkarpeike Weh, wenn ich dich erwische!«
    Die Musik begann wieder, H.R. wischte sich den Schweiß von der Stirn, und alles jubelte und applaudierte, bis auf die Gruppe um Rüdiger, die erst buhte und dann im Chor skandierte:
    »Das war geklaut, das war geklaut!« Sie riefen das so lange, bis der ganze Saal mitmachte und alle lachend und im Rhythmus dazu klatschend im Chor brüllten: »Das war geklaut, das war geklaut!« H.R. schaute sich das eine Zeitlang an, dann machte er Edith ein Zeichen, und die Musik hörte wieder auf. Er hob die Arme, um alle zum Schweigen zu bringen, und das funktionierte auch. Als es endlich ganz still war, sagte er leise, mit ungewöhnlich tiefer Stimme und mit drohendem Unterton ins Mikrofon: »Was war geklaut?«
    »Das mit den verschnittenen Lidern«, rief Rüdiger, und seine Leute - einer machte den Einzähler und rief »Auf drei! Eins, zwei, drei« - nahmen das auf und riefen im Chor: »Das mit den verschnittenen Lidern.« Viele lachten und fielen in den Chor mit ein, Klaus als erster und länger als die anderen. Er rief noch so lange allein weiter, bis Leute sich umdrehten und ihn anschrien, nun sei es aber mal wieder gut.
    »Bei wem soll das geklaut sein?« sagte H.R. irgendwann.
    »Boris Vian!«
    »Du armer Willi!« schrie H.R. so laut er konnte, »du trauriger Mensch, du bedauernswertes Geschöpf, du hast ja nichts kapiert, nicht die Lider, du Idiot«, und er zeigte beim Wort »Lider« auf seine Augenlider, »die Lieder, hörst du, die Lieder, die man singt, du Schmalspur-Rüdiger!«
    Daraufhin brandete tosender Beifall auf, sogar mit den Füßen wurde getrampelt, auch Rüdigers Anhänger, soweit Frank das beurteilen konnte, klatschten mit, das weckte in Frank den Verdacht, daß das ganze Gesummse abgesprochen und einstudiert war, man weiß nie, dachte er, was wirklich gespielt wird, kaum hat man eine

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