Der kleine Erziehungsberater
bekommt sie auch. Neulich habe ich Max einen Leibnizkeks gegeben, und er hat sodavon abgebissen, dass der Keks die Form einer Pistole hatte. Dann hat er auf mich gefeuert.«
»Hatten Sie als Kind keine Spielzeugpistole?«, fragte der Frosch. Er ging mir auf die Nerven, und ich beschloss, ihn bei nächster Gelegenheit jemand anders zum Geburtstag zu schenken.
»Doch, ich hatte ein Cowboygewehr und kleine Plastiksoldaten und Panzer dazu.«
»Na also. Sie sind doch auch ein friedlicher Mensch geworden.«
»Leider nicht«, sagte ich, »ich bin aggressiv und gefährlich. Neulich habe ich Max sogar eine Ohrfeige gegeben.«
»Mal wieder Schuldgefühle, hä?«, fragte der Frosch. Ich beschloss, morgens nicht mehr zu duschen.
»Man ist so machtlos«, jammerte ich. Das Duschwasser, das mir über das Gesicht rann, schmeckte salzig. »Ich kenne einen Jungen, in dessen Kindergarten haben sie eine Friedenswerkstatt veranstaltet, und als er nach Hause kam, hat er gesagt, das beste daran seien diese Holzkreuze gewesen. Die eigneten sich prima als Schwerter, man müsse nur den Querbalken auf beiden Seiten etwas kürzen.«
»Ich mag keine Friedenswerkstätten«, quakte der Frosch.
»Bruno Bettelheim hat geschrieben, man dürfe Kindern Waffen nicht verweigern, wenn sie danach verlangen«, sagte ich. »Die Kinder dächten sonst, schrieb er, man liebe sie nicht, weil man ihnen das Notwendige zur Verteidigung gegen andere Kinder verweigere. Ist das nicht schrecklich? Wie bei den Erwachsenen. Die einen haben Waffen, also müssen sie auch die anderen haben. Was soll man tun? Was man auch macht: Esist verkehrt. Und wie friedliebend man auch ist: Irgendwie bewaffnen sie sich immer.«
»Sie Jammerlappen«, sagte der Frosch. »Sie sind ja völlig ratlos. Ist das hier eine Erziehungsberatung oder was?«
»In erster Linie ist es eine Dusche«, sagte ich leise.
Liebesbriefe
K ürzlich habe ich meinen ersten Leserbrief auf Englisch bekommen, und zwar nach dem Kapitel, in der es um das Semmelnholen ging, do you remember? »Tell Anne«, schreibt Frau Evelyn aus dem bekannten britischen Ort Vaterstetten, »to put on her Lackschuhe and buy the Semmeln herself every Saturday.«
»Anne!«, hab ich durchs Haus gebrüllt, »put on your Lackschuhe and buy some Semmeln!« Aber Anne hatte gerade keine Zeit, weil sie erstens überall die reizende Karte mit Goldschrift rumzeigen musste, die Frau Evelyn ihr auf Deutsch zum Schulanfang geschrieben hat und das, obwohl sie das Kind wirklich persönlich gar nicht kennt. Zweitens versteht Anne kein Englisch, und drittens redet sie mit mir nicht mehr. Ich würde immer alles gleich aufschreiben, sagt sie.
»Wenn ich das nicht machen würde«, habe ich gesagt, »würdest du keine reizenden Karten mit Goldschrift bekommen.« Da hatte ich natürlich recht, aber Anne wollte sowieso Müsli und keine Semmeln zum Frühstück, und ich ging in den ersten Stock, um mit einem Hechtsprung aus dem Fenster in den Gartenteich zu hüpfen, aus dem wir das Wasser abgelassen und den wir statt dessen mit der Leserpost gefüllt haben, um jederzeit in ihr baden zu können.
»Aaaaah!«, rief ich, »Familie Stänner schreibt von der Ile d’Oléron in Frankreich, weil ihr der Erziehungsberater so fehlt, und Cilly Kaletsch schickt mir Mundartgedichte über ihr Enkelkind, und dann meldet sich hier Frau Dausch vomFinanzservice, die eine Broschüre über Investment-Fonds beilegt, damit ich vielleicht doch ein reicher Familienvater werde.«
Ich sah im Umschlag nach, ob Frau Dausch Geld beigefügt hätte, das ich eventuell investieren könnte, fand aber keines.
»Ist es nicht herrlich!?«, rief ich, »die Leute schreiben alle, bei ihnen zu Hause sei es wie hier, chaotisch und anstrengend, verwirrend und schön. In einer Stuttgarter Werbeagentur versammelt sich freitags immer die Belegschaft auf dem Hof, während ein Mitarbeiter den Erziehungsberater von einem Podest herab verliest. Frau Koch aus Bremen hat Fragen. Wer bekommt beim Mittagessen, wenn es ein Hähnchen gibt, ein Bein desselben? Wird darüber eine Liste geführt oder wird jedes Mal ausgelost? Wer darf neben der Großmutter sitzen, wenn diese zu Besuch kommt? Ist der Platz neben ihr beim Mittagessen höher zu bewerten als der beim Frühstück, weil das Mittagessen länger dauert?«
Ich kratzte mich nachdenklich mit der goldenen Zahnbürste am Kopf, die mir die Bayerischen Zahnärzte verliehen hatten, weil ich vollkommen hemmungslos gegen alle Süßigkeiten polemisiert
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