Der kleine Erziehungsberater
sie platt auf der Seite. Der schwarze Bauch ist ganz runzeligund lasch. Die Stirn wird immer flacher. Ein letztes Wort noch, Frau K.! Ihr Brief liegt in einem Stapel von anderen Briefen. Hier sind zum Beispiel die Zuschriften von Herrn K. aus S. und Herrn M. aus M., die beide behaupten, ich hätte in den bisherigen Kapiteln nicht über meine eigene, sondern über ihre jeweilige Familie berichtet. Herr M. verdächtigt mich sogar des Besitzes einer Tarnkappe. Herr F. aus P. teilt mit, die Lektüre des Erziehungsberaters verschaffe ihm »die fast therapeutische Erleichterung, dass es mit den eigenen Kindern wohl doch nicht so schlimm ist, wenn es den anderen – fast wortgleich – ebenso geht«.
Sie sehen, Frau K., ich bin nicht allein. Wir sind viele. Wir stehen bis zum Hals in Verwirrung. Aber hilflos sind wir nicht. Wir haben kein richtiges pädagogisches Rezept. Wer hat das schon in diesen Zeiten? Es gab Elterngenerationen, die wussten genau, worin Erziehung zu bestehen habe. Die hatten Konzepte – ich weiß bloß nicht, ob es die richtigen waren. Wir hingegen sind nicht autoritär. Wir sind auch nicht anti-autoritär. Wir wurschteln uns so durch. Manchmal denken wir, wir machen alles falsch. Aber wir wollen nicht larmoyant sein. Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen, und kleine Kinder lieben wir auch, mit kurzen Unterbrechungen jedenfalls. (Und jetzt alle: … und dehennohoch sank unsere Fahahahne nicht!)
Frau K.! Wir grüßen Sie mit bekleckerten Hosen und blanken Nerven. Wir grüßen auch im Namen aller Erziehungsberaterinnen, die uns verfluchen, weil wir tagsüber ins Büro gehen und uns vor anderen dicke tun als sorgende Väter mit reizenden Kindern, während sie die Arbeit machen. Wir grüßen im Namen einer ganzen überforderten Elterngeneration.
Und jetzt muss ich Schluss machen, Frau K., mit dem Brief, meine ich. Ich will nämlich doch noch diesen Scheiß-Gorilla reparieren.
Sieben Geld
J eden Sonntagmorgen um sechs betritt ein kleiner, ernster Mann mein Zimmer, geht an den Nachtschrank und zählt das Geld, das dort liegt. (Ich trage die Münzen immer lose in der Hosentasche und lege sie abends dorthin.) Er zählt mit flüsternder Stimme und sagt dann laut: »Papa, du hast acht Geld.«
»Arrmmmpff«, sage ich und beiße in mein weiches Kissen.
»Papa, ist acht Geld mehr als sieben Geld?«
»Murrmpffff.« Wer ist dieser merkwürdig ernste, kleine Mann?
»Papa, sind neun Geld mehr als sechs Geld?«
»Chrrrmmmmpffff.« Wenn man ihm sieben Centstücke in der einen und einen Euro in der anderen Hand hinhält, wird er die sieben Cent nehmen, weil er denkt, das sei mehr.
»Papa, warum hast du so viel Geld?«
Es sind wirklich nur ein paar kleine Münzen, aber er kennt bloß ihre Zahl, nicht den Wert. Ich werde mir in Zukunft mein Gehalt in sehr kleinen Scheinen auszahlen lassen.
»Papa, was ist heute für ein Tag?«
Oh, Kissen! Kissen! Niemand soll uns trennen! Acht Kissen sind mehr als sieben.
»Papa, ist heute Sonntag?«
»Ist heute Sonntag?«, denke ich.
»Papa, haben heute die Läden offen?«
Wer genau hatte eigentlich damals die Idee, den Kindern ihr Taschengeld sonntags auszuzahlen, damit sie es nicht gleich ausgeben können? Wer war es? Wer?!!
»Papa, darf ich mir mein Taschengeld nehmen?«
Sechs Uhr zehn. Sonntag ist sein wichtigster Tag. Als wir ihm eines Samstags erzählten, er bekomme jetzt jeden Sonntag einen Euro Taschengeld, kam gerade sein Freund Willi zur Tür herein und wollte sich für den nächsten Tag mit ihm verabreden. »Morgen habe ich keine Zeit«, hat der kleine, ernste Mann da gesagt. »Da bekomme ich Taschengeld.«
»Papa, darf ich das Taschengeld für Anne auch gleich mitnehmen?«
»Wasnlosmpffff.«
»Dann nehme ich zwei Fünfziger für mich und einen Euro für Anne. « (Ach, jetzt kennt er die Münzen auf einmal doch!) Weg ist der kleine, ernste Mann. Oh, umdrehen und noch ein bisschen kissenkissenkissen. Manchmal hilft alles nichts, manchmal muss man sich seine Sonntagsruhe eben einfach erkaufen. Die eigenen Kinder bestechen, mit Geld beruhigen. Mist, aber es ist so.
Und wer ist jetzt dieses kleine, heulende, ganz und gar verzweifelte Mädchen neben meinem Bett? Was sagt es? Was will es? Sechs Uhr fünfzehn.
»Papa, der Max hat zwei Geld, und ich hab’ bloß eines. Das ist ungerecht!«
Ungerecht. Sechs Uhr sechzehn. Das ist ungerecht. Ruhe kann man nicht kaufen. Ruhe ist unbezahlbar. Ruhe ist – was ist Ruhe? Es ist Sonntag, und der kleine Mann ist
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