Der kleine Fluechtling
Saison einläutete.
An einem der noch warmen Septembertage stiegen Minna und Carmen in den Bus nach Grafenau, nahmen die Anschlusslinie nach Deggendorf und trennten sich dort. Minna bestieg den Zug nach Plattling, wo sie den Transport der Möbel überwachen und der Knabenschule einen letzten Besuch abstatten wollte. Carmen wartete auf den Bus nach Straubing, um in der dortigen Stadtverwaltung ihr Zeugnis abzuholen. Weil ihr danach eine Menge Zeit bleiben würde, bevor sie zurück nach Deggendorf fahren musste, um sich wieder mit Minna zu treffen, hatte die ihr aufgetragen, sich vorsorglich ein, zwei Umstandskleider anzuschaffen.
»Bei Hafner hast du die beste Auswahl, Kind. Wozu sollten wir später extra nach Passau fahren, wenn sich jetzt die Gelegenheit bietet.«
Ja, Minna war eben weitblickend und umsichtig.
Carmen stand im Modehaus Hafner vor einer Spiegelsäule und hielt sich ein Kleid mit reichlich Falten unter den Brustabnähern vor den noch schlanken Körper. Der lichtblaue Wollstoff schien ihr für den Winter und das zeitige Frühjahr recht gut geeignet.
»Sehr apart«, hörte sie eine Stimme von schräg hinter sich. Carmen nickte, ohne sich umzudrehen. Der Verkäufer hatte recht. Sie würde das Kleid nehmen.
»Ist das der Grund, weshalb Sie von heute auf morgen verschwunden sind?«, fragte die Stimme.
Carmen wirbelte herum und fand sich einem jungen Mann gegenüber, den sie kannte. Sie hatte ihn an vielen Sonntagen beim Tanztee im Mitterwallner gesehen. Er war ihr aufgefallen, weil er immer besonders elegant gekleidet gewesen war. In seiner Begleitung befand sich stets ein pummeliges Mädchen, ebenfalls gut angezogen, aber wegen der viel zu breiten Hüften und der zu kurzen Beine keines zweiten Blickes wert.
Jetzt stand dieser junge Mann vor ihr und war bereits zum richtigen Schluss gekommen. Nun würden es doch noch alle erfahren – Gerhard, seine Freunde von der Band, die Kollegen in der Stadtverwaltung, die Nachbarn in Plattling …
Carmen brach in Tränen aus.
Da nahm Didi sie in die Arme und hielt sie fest. Minutenlang schluchzte sie salzige Flecken auf sein Sakko; irgendwann begann Didi, ihren Nacken zu streicheln.
Als Carmens Schluchzer leiser wurden, drückte er sie mit der linken Hand sanft an sich, nahm ihr mit der rechten das Kleid ab und hängte es zurück an den Ständer. Dann führte er sie nach nebenan ins Café Krönner, wo er einen Tisch hinter einer Säule fand, die die nötige Deckung gewährte.
Mit dem Einfühlungsvermögen, das sich Didi durch seinen jahrelangen Umgang mit der Bekkler’schen Kundschaft erworben hatte, brachte er Carmen zum Reden. Wenig später wusste er nicht nur über die jüngsten Ereignisse Bescheid, sondern hatte auch einen profunden Einblick in Carmens bisheriges Leben bekommen.
Stunden danach brachte er sie zur Bushaltestelle. Auf dem Weg dahin versprach er Carmen in die Hand, ihr Geheimnis bestens zu hüten.
Bevor sie in die Linie nach Deggendorf stieg, fragte sie unvermittelt: »Was hat dich eigentlich bei Hafner in die Ecke für Umstandsmoden verschlagen?«
»Auftrag von Frau Bekkler«, antwortete Didi. »Sie will ihr Sortiment erweitern.«
Weil ihn Carmen daraufhin nur perplex anstarrte, fügte er zwinkernd hinzu: »Spitzeldienste, Schnüffelei, Auskundschaftung.«
Auf Carmens Gesicht erschien ein winziges Lächeln.
Am darauffolgenden Samstag tauchte Didi in Waldhäuser auf.
Carmens Wangen überzogen sich mit einen rosigen Schimmer, als sie ihn von ihrem Balkon aus auf den Gasthof zumarschieren sah.
Sie eilte hinunter, begrüßte ihn freudig und kam offenbar gar nicht auf den Gedanken, er könnte aus einem anderen Grund als ihretwegen hier sein (womit sie völlig recht hatte).
Die beiden wanderten den ganzen Nachmittag lang über die Wege und Stege an den Lusenhängen, und als Didi am frühen Abend in den Bus nach Grafenau stieg, von wo aus er Anschluss nach Deggendorf haben würde, winkte ihm Carmen lange nach.
Am nächsten Samstag kehrte Didi zurück, ging mit Carmen spazieren, saß lange mit ihr auf einer Waldlichtung, die sich Martins Klause nannte, und fuhr abends wieder ab. Er kam auch am darauffolgenden Samstag. Doch diesmal mietete er sich ein Zimmer im Gasthof, weil er vorhatte, auch am Sonntag noch zu bleiben. (Es war der letzte Sonntag im September, jener, an dem Gerda vergeblich darauf wartete, dass Didi sie abholen würde.)
Minna hatte inzwischen von einer Freisinger Schule Antwort auf ihr Bewerbungsschreiben bekommen. Der
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