Der kleine Fluechtling
krankzumelden. Doch das erwies sich als schwerer Fehler. Denn nun hockte Carmen zu Hause, kotzte und weinte und kotzte und weinte. Am dritten Tag ihrer Einzelhaft griff sie zur Bärwurzflasche.
Minna merkte nicht gleich, dass Carmen sich und das Kind mit Schnaps ersäufen wollte, aber als sie dahinterkam, reichte sie auch für sich Urlaub ein, packte zwei Koffer und schaffte Carmen aus dem Landkreis.
Als Gerhard am Wochenende kam, um Carmen abzuholen, stand er vor verschlossenen Türen. Die Hauseigentümerin (die ihre Wohnung im Parterre hatte) teilte ihm mit, die Damen seien auf Erholung gefahren und hätten keine Adresse für ihn hinterlassen, weil sie offenbar nicht behelligt werden wollten.
Minna tauchte mit Carmen dort unter, wo sie sich geborgen fühlte, wo sie sich auskannte und wo sich Fuchs und Has Gute Nacht sagten: Sie quartierte sich und ihre Tochter im einzigen Gasthof von Waldhäuser ein, jenem Dörfchen unterm Lusengipfel, das in den kommenden Jahren von Touristen allmählich wiederentdeckt werden sollte.
Als Minna auf den kleinen Balkon ihres Zimmers trat, sah sie den Filzbach vorbeirinnen, und sie hörte den Schreyerbach gurgeln. Ostseitig konnte sie sogar den Gugler-Hof ausmachen, der schräg vis-à-vis hinter den Birken hervorspitzte. Aus den Fenstern der Nachbarhäuser lugten bekannte Gesichter.
Die Gesichter inspirierten Minna zu einer abenteuerlichen Legende.
»Meine Carmen is zwischen München und Paris auf jedem Laufsteg daheim gewesen«, gab sie abends in der Gaststube zum Besten. »In Lindau is sie auftreten und in Baden-Baden. Alle Modehäuser ham sich um sie grissen. War ja kein Wunder, bei ihrer Figur.«
Die paar anwesenden Waldhäusler nickten zustimmend. Carmens Figur ließ wirklich nichts zu wünschen übrig. Minna kam in Fahrt.
»Aber meine Carmen is ein kluges Mädel. ›Nein‹, hat sie gsagt, ›der Laufsteg is nix auf Dauer.‹ Und sie hat einem jungen Brauereibesitzer das Ja-Wort geben, einem, der sie schon lang verehrt hat. Eine schöne Hochzeit ham wir gfeiert«, seufzte Minna und wischte sich zwei Tränen ab, »und bald drauf schon hat sich was Kleines angmeldet.«
Minnas Zuhörer nickten wieder. Gegen Nachwuchs war nichts einzuwenden. Minna fuhr bekümmert fort: »Aber dann is das Verhängnis hereinbrochn. Ein Stahlseil vom Ladekran hat meinen Schwiegersohn am Kopf troffn. Da is nix mehr zu machen gwesen.« Sie schniefte und kam zum Ende ihrer Geschichte. »Ich hab die Carmen hierher in die Heimat bracht, weil die Heimat is wie ein Nest, wo sich einer hineinflüchten kann, wenn’s Schicksal zugschlagn hat.«
»Ja«, nickten die Waldhäusler, »das is hart, wenn eine Frau so früh den Mann verliert und das Kind den Vater, bevor es noch geborn is.« Sie machten sich an diesem Abend bald davon, weil sie genug an ihren eigenen Bürden zu tragen hatten. Der eine oder andere klopfte Carmen auf die Schulter und sagte Sätze wie »Wird schon werdn« oder »Hundert Jahr hängt’s nicht auf eine Seiten« und »Du bist noch jung, du kommst schon wieder auf die Füß«.
Wer als Erste auf die Füße kam, war Minna. Die soeben erdichtete Legende hatte ihr eine akzeptable Lösung aufgetan.
Stadtverwaltungen gibt es genügend in Bayern, sagte sie sich forsch, Schulsekretariate ebenfalls. In einem anderen Bezirk, weit jenseits der Klatsch-und-Tratsch-Grenze, kann Carmen ungeniert mit einem toten Ehemann aufwarten, und damit hat das Kind wenigstens einen sozusagen vorzeigbaren Vater. Aufziehen müssen wir es zwar vorerst allein, aber wer weiß …
Minna war von ihrem Ausweg aus der zeitweiligen Sackgasse recht angetan und konnte auch Carmen dafür erwärmen. Eiligst machte sie sich ans Werk, den Weg zu bereiten.
Kurzerhand sandte sie Kündigungsschreiben an die Straubinger Stadtverwaltung und ans Direktorat der Knabenrealschule in Plattling. Beide Briefe begannen mit den Worten: »Aus zwingenden privaten Gründen …« Mit gleicher Post verschickte Minna Bewerbungsschreiben nach Freising, Schwandorf und Neumarkt in der Oberpfalz. Dann kündigte sie die Wohnung in Plattling und mietete eine Garage an, wo die Möbel untergestellt werden sollten, bis man wusste, wo sie eine neue Heimat finden würden. Außerdem handelte sie mit der Wirtin des Gasthofs, in dem sie sich einquartiert hatten, einen wöchentlichen Pauschalpreis aus, um günstiger über die Runden zu kommen. Die Wirtin erklärte sich sichtlich gern dazu bereit, weil ohnehin bald der Oktober ins Haus stand, der die tote
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