Der kleine Fluechtling
sie das Gebäude verlassen, bleckte er gönnerhaft seinen Überbiss aus dem offenen Seitenfenster. »Komm, Mädel, steig ein. Wir ham so eine schöne Zeit ghabt miteinander. So was muss man gepflegt beenden. Ich hab zum Abschied eine richtig feine Überraschung für dich – was das anbelangt.«
Zufrieden registrierte er, dass Carmen geschmeichelt schien, dass nicht das kleinste Fünkchen Misstrauen in ihren Augen glomm. Sie umrundete den Wagen, öffnete die Beifahrertür und glitt elegant in den Sitz.
Wolli brauste mit ihr davon. Er nahm die Landstraße in Richtung Plattling und zweigte dann nach Pielweichs ab.
»Wo fahren wir denn hin?«, fragte Carmen.
Wolli lachte. »Überraschungen geht man so entgegen: Man macht die Augen zu und ist gespannt.«
»Ich bin unheimlich gespannt«, versicherte ihm Carmen.
Wolli ließ den Käfer ein Stück weit in die Isarauen rollen und hielt in einem Kreis aus Pappelbäumen an.
Carmen stieg aus und sah sich neugierig um.
Selbst als Wolli sie packte und mit dem Gesicht voran in ein Kriechgewächs stieß, schien sie nicht zu argwöhnen, was ihr bevorstehen könnte.
»Was …?«
Wolli drückte ihren Kopf zwischen harte Blätter und stachelige Zweige und sorgte mit ein paar Fußtritten dafür, dass sie bäuchlings liegen blieb.
Dann ließ er sich viel Zeit.
Es war längst dunkel, als er endlich genug hatte.
»Jetzt sind wir quitt, was das anbelangt«, sagte er, während er seinen Hosengürtel zuhakte. Daraufhin stieg er in seinen Käfer und fuhr davon.
Carmen blieb im Pappelkreis liegen. Erst nach Stunden raffte sie sich auf und schleppte sich nach Hause. Sie hatte gut vier Kilometer zu gehen.
Minna ließ ihrer Tochter Badewasser ein.
Mit verkniffenen Lippen und schmalen Augen hörte sie sich an, was ihr Carmen (von der nur das zerkratzte Gesicht über die Schauminseln hinausragte) zu berichten hatte. Als das Wasser schon beinahe erkaltet war, half sie ihrem Kind aus der Wanne.
Sorgsam trocknete sie Carmen ab, träufelte Jodtinktur auf ihre Schürfwunden, strich Arnikasalbe auf ihre Blutergüsse.
Dann kochte Minna Baldriantee.
Carmen lag schon eine ganze Weile wohlversorgt auf dem Sofa und hatte zwei Tassen von Minnas Tee getrunken, als ihre Mutter den Mund aufmachte.
»Kind, diese Geschichte muss unser Geheimnis bleiben.«
Minna sah, wie Carmen gehorsam nickte, und strich sachte über deren linken Handrücken, der auf der Decke ruhte.
Es gab nur diesen einzigen Weg, Carmens Zukunft zu retten: Man musste so tun, als wäre nichts geschehen, absolut gar nichts. Carmen war heute – genauso wie an jedem anderen Tag – mit dem Bus vom Büro nach Hause gekommen, und damit basta.
Man konnte es sich nicht leisten, Wolli an den Pranger zu stellen. Selbst wenn der junge Keisling das Gerede, die Schande, die Blamage, die ganze kompromittierende Situation um Carmens willen ertragen wollen würde – sein Onkel würde es gewiss nicht.
»Vergiss die Sache«, drängte Minna, »vergiss sie auf der Stelle.«
Carmen schlug sich wirklich tapfer.
Sie erschien schon am nächsten Tag wieder in ihrem Büro in der Straubinger Stadtverwaltung und tat wie gewöhnlich ihre Arbeit. Am Wochenende gab sie Gerhard nicht den mindesten Anlass, welchen Verdacht auch immer zu schöpfen, während sie die Nachmittage wie üblich miteinander verbrachten (die Kratzer auf Carmens Stirn und Wangen hatte Minna dick überpudert).
»Die Zeit heilt alle Wunden«, sagte Minna in der folgenden Woche mit überzeugt klingender Stimme.
Das mag ja sein, aber Carmen war auch in einen Umstand geraten, den die Zeit erst an den Tag bringen sollte.
Sie war schwanger.
Da wusste auch Minna nicht gleich einen Rat. Nächtelang fragte sie sich, ob sie Carmen zu einer Engelmacherin schaffen sollte, konnte sich letztendlich aber nicht dazu durchringen. Zwischendurch erwog sie die Möglichkeit, Wollis Vergehen doch noch ans Licht zu bringen, um Carmens Kind zu einem Vater zu verhelfen, musste sich aber eingestehen, dass die Erfolgsaussichten insofern schlecht standen, als man sich vorwerfen lassen musste, nicht sofort nach der Tat Anzeige erstattet zu haben.
Bevor Minna auf ihrer Suche nach einem Ausweg aus der verzweifelten Situation auch nur einen Schritt weitergekommen war, begann Carmen Fisimatenten zu machen, indem sie sich ständig erbrach. Das war in ihrem Zustand zwar nicht ungewöhnlich, aber mitnichten angebracht. Minna blieb nichts anderes übrig, als Carmen in der Stadtverwaltung vorübergehend
Weitere Kostenlose Bücher