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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Herrgott einen guten Mann sein lassen und sich ins gemachte Himmelberg-Nest hineingesetzt. Im Gegenteil, ganz im Gegenteil, sie kümmert sich ums Viehzeug, scheut sich nicht vorm Heuwenden und vorm Gurkenpflücken und zu all dem macht sie noch dreimal die Woche Spätschicht in Mainkhofen bei den Verrückten, weil sie eine ausgebildete Krankenschwester ist, jawohl.«
    Die Neuhausener verziehen der Himmelberg-Bäuerin mit der Zeit, dass sie keine Hiesige war. Aber musste sie dieses Liesl-Balg am Hals haben?
    Das Balg konnten sie ihr nicht nachsehen – nie, in zwei Jahrzehnten nicht. Liesl war von Anfang an gebrandmarkt und würde es bleiben.
    Und seit zwei Jahren war Liesl nun doppelt befleckt. Sie selbst hatte im Frühjahr ’43 ein Balg geboren und wollte partout nicht damit herausrücken, von wem sie geschwängert worden war.
    Zwischen Liesls dumpfen Schritten vernahm Anna die schnellen, leichten Tapser des Balgs. Wie Sechzehntelnoten schwirrten sie bei diesem Morgenkonzert durch die Komposition.
    Anna klatschte die flache Hand auf das Gänsefederplumeau. Was für eine Schande! Hatte Liesl, weil selbst ein Bankert, es nicht nötig gehabt, die Form zu wahren und alles dranzusetzen, dass ihr Kind als legitim gelten konnte?
    Die marode Neuhausener Kirchturmglocke schlug fünfmal. Mit dem letzten Schlag hallte auch das Scheppern der blechernen Milchkannen zum Fenster herein. Dieser Ton läutete das Melken ein wie der Pfarrer die Wandlung beim sonntäglichen Hochamt.
    Beim Gedanken an den Krug voll rahmiger Milch, den Willi in wenigen Minuten in die Küche bringen würde, hob sich Annas Laune. Sie würde jetzt aufstehen, sich eine Tasse voll Zichorienkaffee eingießen und ihn mit der frischen Milch nussbraun färben. Dann würde sie einen großzügigen Guss Milch über den Haferschrot schütten, damit er dick und schwer und weich wurde.
    Anna schob das Plumeau weg.
    Bevor sie die Füße auf den Boden stellte, machte sie wie jeden Morgen das Kreuzzeichen, und an diesem Morgen sagte sie sich dabei, dass sie trotz allem guten Grund hatte, dankbar zu sein. Denn schließlich hockte sie hier im sicheren Nest ihrer Altvorderen, wo sich jeden Tag ein neuer Klumpen Butter, ein neues Dutzend Eier und neue Berge von Salatköpfen, Gurken und Rüben erwirtschaften ließen. Im österreichischen Münzhausen dagegen schien sich die Lage inzwischen drastisch verschlechtert zu haben.
    Helga schrieb, dass sich ihre Kunden offenbar mit einem Loch in der Joppe leichter anfreunden konnten als mit einer leeren Vorratskammer, und bat um ein Hilfspaket vom Himmelberghof, damit ihre Buben bei Sauerampfersuppe und Löwenzahngemüse nicht vom Fleisch fielen.
    Der Himmelberg-Bauer beschloss daraufhin, eine anständige Versorgung für Tochter und Enkelkinder einzurichten, wenn er sie schon nicht herholen konnte, weil auf dem Himmelberghof nicht noch Platz für drei weitere Personen war. Und außerdem, was sollte dann aus Helgas Schwiegermutter werden? Gleich morgen und von da ab jeden zweiten Sonntag sollte Willi das Fuhrwerk mit Produkten des Hofes beladen, den Gaul einschirren und das Gespann zum Sauwald lenken.
    »Und Max muss mitfahren«, bestimmte der Bauer, »und den Willi aufwecken, wenn der einschläft.«
    So kam es, dass die Brüder – der eine einarmig, der andere nur bedingt zurechnungsfähig – am Sonntag in aller Früh auf den Bock kletterten und in südlicher Richtung davonfuhren.
    Anna winkte ihnen nach. Als die beiden außer Sicht waren, sprach sie ein Dankgebet für den Erdflecken, auf dem sie stand und den sie bisher nicht für der Rede wert gehalten hatte.

2
    Anna schlang die Bänder eines gerüschten Häubchens unter Gerdas Kinn zu einer Schleife, wickelte das Kind in eine bestickte Decke, nahm es auf den Arm und ging auf die Gred hinaus. Sollten die Leute aus dem Dorf, die ihre Milch vom Himmelberghof holten, nur sehen, was sie für eine hübsche Tochter hatte. Sollten sie doch mal Gerdas klare Augen, ihr edles Näschen, ihr Schmollmündchen mit der derben Visage von Liesls Bankert Renate vergleichen, dann würden sie selbst erkennen, dass sich Gerda zwangsläufig zu einer Schönheit entwickeln musste.
    Anna Langmoser hatte entschieden, ihre Tochter zu einer Prinzessin zu machen, der – sobald die Zeit dafür reif wäre – niemand anders als ein Prinz zu Füßen liegen würde. Bis dahin sollte es Gerda an nichts fehlen. Nicht an In-Butter-gebräuntem-Grießbrei, nicht an Sahnepudding, nicht an gedämpften und fein

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