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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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schälen. Punkt drei Uhr früh hatte für Sepp eine Kanne Kaffee (mit Kaffee-Ersatz aufgebrüht, versteht sich), Brot und Zwetschgenmus auf dem Tisch zu stehen, denn bereits eine halbe Stunde später begann für ihn der Arbeitstag. Das Schlurfen und Rascheln weckte meist Klein-Gerti, die lautstark kundtat, dass es auch sie schon nach Frühstück verlangte.
    Klein-Gerti schlief nach dem Fläschchen gewöhnlich wieder ein, Sepp verließ das Haus. Da sollte man doch meinen, für Anna wäre nun noch eine ordentliche Runde Morgenschlaf zu holen gewesen. Weit gefehlt. Anna fand kein bisschen Ruhe mehr, denn kaum graute der Tag, begann es am Himmelberghof an allen Ecken und Enden zu rumoren. Es flüsterte und polterte wie in der Sonntagsmesse beim Segen, wenn die Kirchgänger bereits anfingen, nach ihren Handschuhen, Schirmen und Hüten zu kramen.
    Durch die rückwärtige Wand ihres Zimmers – vom eichernen Kopfteil des Ehebettes nur unzureichend gedämpft – konnte Anna ein fortwährendes »Verflucht-Himmel-Herrgott-verflucht« hören. Das kam von Max. Und Anna sah sich genötigt, das Stöhnen ihres älteren Bruders nachsichtig hinzunehmen. Er hatte ’43 seinen rechten Arm in der Normandie zurücklassen müssen, und just dieser fehlende Arm gönnte Max jetzt keinen Schlummer.
    Von der ostseitigen Wand her, wo Annas Frisiertisch stand, dröhnte ein Klopfen und Pochen. Es kam von Annas jüngerem Bruder Willi und ließ sich schon schwerer verzeihen. Schuld an Willis Unruhe trug nämlich weder der französische noch der russische Feind, sondern Willi ganz allein selbst. Im Herbst ’39 war ihm das Kunststück gelungen, sich von der Heuwagendeichsel kopfüber auf eine Grenzsteinkante des väterlichen Anwesens zu katapultieren, was ihm – alle Neuhausener zeigten sich darin einig – einen satten Dachschaden einbrachte. Seither trieb es Willi ab Mitternacht um wie einen Poltergeist. Als Ausgleich dafür drohte er gewöhnlich am Mittagstisch in Tiefschlaf zu fallen. In schöner Regelmäßigkeit schepperte mittags sein Löffel auf den Fußboden, doch bevor sein Kinn auf die Brust sinken und seinem offenen Mund der erste Schnarcher entweichen konnte, wurde ihm der Löffel mit freundlich-diskretem Schulterklopfen wieder in die Hand gedrückt. Willi, ob an Insomnie leidend oder nicht, würde den Arbeitstag zum Wohle des Himmelberghofs und sämtlicher Nachbarn durchhalten müssen.
    Die Bauern in der ganzen Gegend verließen sich auf sein Talent. Allein Willi ermöglichte es ihnen, in diesen kargen Zeiten das Heu einzufahren, den Mais zu ernten, den Weizen zu dreschen, die Gurken heimzukarren. Dank Willi rumpelten ihre Fuhrwerke unverzagt über Neuhausens Felder, denn Willi flickte Rad- und Achsenbrüche sowie jedwede andere Fraktur so erfinderisch, wie das nur einer mit Dachschaden hinbekommt.
    Westseitig hinter der Kammerwand hörte Anna Langmoser allmorgendlich ihre Eltern herumwirtschaften: das Schlurfen zum vorderen Fenster, das Ratschen der Vorhänge, das Murmeln angesichts des jeweiligen Wetters: »Regen heute! Gut für Gerste, schlecht für Gurken.« Das Auftreten ihrer Eltern in der Geräuschkulisse brachte Annas Gewissen stets dazu, ungeduldig an ihr zu zerren: Zeit, höchste Zeit, dem nutzlosen, faulen Herumliegen ein Ende zu machen.
    Was Anna jedoch täglich zur Weißglut trieb, war das vierfüßige Tapsen, das sie gegen fünf von oben hören – und sogar sehen konnte, weil es die Hängelampe über ihrem Bett zum Schwingen brachte.
    Es kam von Liesl und ihrem Balg.
    Schon als Kind hatte Anna gelernt, ihre Stiefschwester Liesl als Schmutzfleck auf dem weiß gekalkten Anwesen ihrer Eltern zu betrachten, denn die Neuhausener vergaßen nicht, die Sache immer wieder aufzuwärmen.
    Etliche Jahre vor Annas Geburt hatte die Ankunft von Liesls Mutter auf dem Himmelberghof in Neuhausen die Wellen im Dorf hochschlagen lassen: »Wie kommt der Himmelberg-Bauer dazu, sich eine Auswärtige auf den Hof zu tun? Noch dazu eine mit einem ledigen Kind? Einem Bankert, der sich während der Trauung an den Rockzipfel der Mutter hängt? So was gehört sich nicht. Kreuzkruzitürken, ist dem Himmelberg-Bauer eine Neuhausenerin nicht gut genug?«
    Annas Vater schien seine Wahl nicht zu reuen. Sogar die Dörfler registrierten nach einiger Zeit widerwillig, wie fleißig die zuerst geschmähte Fremde überall mit anfasste.
    Jeder, der sein Weihwasser am Neuhausener Dorfkirchlein schöpfte, bemerkte bald beifällig: »Sie hat nicht einfach den

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