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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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schwarze Mann je einen Schokoladeriegel für Ulrich und Anton. Dann durfte die Familie Scheller auf seinen Armeelaster klettern.
    »Juhu«, rief Ulrich und lachte vom einen Ohr zum andern. Mutter Scheller hob flüchtig die Mundwinkel, ein Lächeln machte sie nicht daraus.
    Mit Recht, wie sich bald zeigen sollte.
    Keine halbe Stunde später lud der Laster seine Fracht schon wieder ab, der Mann aus »Völker der Erde« winkte leutselig und brauste davon.
    Der Marktflecken, in dem sich die Schellers an jenem sonnigen Frühsommermorgen wiederfanden, hieß Zwiesel. Aber dieses Zwiesel wirkte grimmig und kalt.
    Über Ulrichs Kopf öffnete sich ein Fenster. »Hauts die Flüchtling zamm!«, brüllte ein Stiernacken mit Zahnlücke herunter. »Hauts es zamm!«, tönte das Echo von dort und da.
    Vater Scheller schüttelte bekümmert den Kopf und schlug den Weg zum Bahnhof ein. Die Gleise lagen verlassen da, trübselig begannen die Schellers, ihnen zu folgen. Ulrich wechselte seinen Sack mal auf die eine, mal auf die andere Schulter und tappte, plötzlich düster gestimmt, hinter den Seinen her. Was ihm zu schaffen machte, war nicht die Enttäuschung darüber, dass es wieder einmal zu Fuß weiterging, nachdem die Familie am Morgen so komfortabel im Laderaum eines Viertakters gereist war. Vielmehr peinigte ihn jener Groll, der offenbar hinter den blinden Fensterscheiben von Zwiesel hauste.
    Mit gesenkten Köpfen schlichen die Schellers an den letzten Häusern des Ortes vorbei, wo die Schmährufe endlich verebbten.
    Im nächsten Dorf – Regen am gleichnamigen Fluss – fingen sie jedoch von Neuem an: »Schauts, dass weiterkommts, ihr dreckigen Böhmacken, sonst setzt’s was!«
    Der Hunger nagte, die Füße warfen Blasen. Dennoch forcierten die Schellers das Tempo. Flüche schwirrten um ihre Köpfe wie Schrapnell. Die Beschimpfungen nahmen ihnen alle Kraft. Mit schwindendem Mut schleppten sie sich weiter bis zu einem Dorf namens Reinhartsmais. Ein Rossknecht spuckte verächtlich aus, als er sie kommen sah.
    Auf ihrem Weg durch Böhmen waren die Schellers auch nicht immer freundlich behandelt worden. Aber nie hatte man sie derart beschimpft und bedroht.
    Warum hier?, fragte sich Ulrich, fand jedoch keine Antwort darauf.
    Als er des Nachsinnens überdrüssig wurde, fragte er seinen Vater.
    »Mecht der Bayerwald schon übervoll sein von ostpreußische Flüchtling«, antwortete der.
    Das leuchtete Ulrich ein. Zahllose Menschen waren in den vergangenen Wochen und Monaten aus ihrer Heimat geflüchtet, und irgendwo mussten sie irgendwann ja geblieben sein. Hier also. Sie hatten sich im Bayerwald eingenistet wie vergangenen Sommer die Haselnussbohrer auf dem Dominium. Halbwegs verständlich, dass sich die Einheimischen zu wehren begannen, dass sie jeden neuen ungebetenen Gast zu verscheuchen suchten. Was jedoch bedeutete, dass die Familie Scheller weiterziehen musste. Weiter und immer weiter bis an einen Ort, der noch nicht besetzt war. Gab es einen solchen? Und wie viele feindlich gesinnte Dorfbewohner würden die Schellers bis dorthin noch passieren müssen? Mit Grauen stellte Ulrich sich vor, dass die Ansässigen auf die Vorbeiziehenden schießen könnten wie die Bauern von Szachow in der Dämmerung auf die Wildschweine.
    Wie unwillkommen auch immer, Familie Scheller musste sich in Reinhartsmais ein Nachtquartier suchen. Mutter Schellers Knöchel war nach einem Fehltritt angeschwollen und lila verfärbt. Sie flüchteten sich in eine ausgeweidete Kapelle am Waldrand, deren Türmchen zerschmettert auf einem Felsen lag, als hätte ein Riesenvogel es abgebissen und wieder ausgespuckt.
    An keinem einzigen Kriegstag hatten die Schellers so gedarbt wie jetzt in Friedenszeiten. Sie wagten sich nicht in den Ort, trauten sich an keine einzige Tür zu klopfen.
    »Über die Rusel müsst ihr«, teilte ihnen ein Mann auf einem Fuhrwerk drakonisch mit, »und dann hinunter nach Deggendorf, da haben sie ein Flüchtlingslager eingerichtet.«
    Die Schellers erreichten die Stadt Deggendorf am Donauufer Ende Juli des Jahres 1945. Feindseligkeit schlug ihnen mit neuer Intensität entgegen. Desolat endete Ulrichs Abenteuer »Flucht« in einer Ringstraße um den Stadtplatz, die sich in jenem Bereich »Östlicher Stadtgraben« nannte.
    Und jetzt hätte Ulrich gern mit Gerda Langmoser oder mit jedem anderen Menschen tauschen mögen, der nicht den Stempel »Flüchtling« trug.
    Die Schellers wurden hinter zwei schütteren Decken, die wie Segel über Stangen

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