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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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zerdrückten Karotten, die Klein-Gerti zu einer schimmernden Bräune verhalfen, nicht an Rüschchen und Spitzenbesätzen, an gar nichts. Dafür wollte Anna kämpfen. Mit Zähnen und Klauen wollte sie verteidigen, was Klein-Gerti zustand – gegen alle und jeden.
    Argwöhnisch schweifte ihr Blick über den Hof und weiter über die Felder, tastete über jede Bodensenke, verfehlte jedoch Ulrich, der auf der verzweifelten Suche nach unbewachten Rüben oder vergessenen Kartoffeln durch die Äcker irrte.
    Die Schellers hatten Mitte März 1945 in Szachow ihre Habe geschultert und sich nahtlos in den Strom der Flüchtlinge Richtung Westen eingereiht. Der April lehrte Ulrich dann, was »von der Hand in den Mund leben« in letzter Konsequenz bedeutete.
    Während sich Klein-Gerti in Gänsedaunen räkelte, warf sich Ulrich spätabends auf verdreckte Strohschütten in verfallenen Scheunen, auf löchrige Matratzen in verwaisten Schulhäusern. Einmal nächtigte er in einem ausgebrannten Rotkreuzfahrzeug, ein anderes Mal legte er sich in die Kugelrinne einer verlassenen Kegelbahn. Dennoch hätte er mit einem Kind wie Gerda nicht tauschen wollen – damals noch nicht. Denn damals träumte Ulrich noch den Traum vom Anderswo, und im Anderswo spielten Gänsedaunen keine große Rolle. Süße Puddingspeisen schon eher, aber würde man sie nicht bald leid werden, wenn man sie Tag für Tag vorgesetzt bekäme?
    In Staòkov besserte sich die Lage der Schellers kurzfristig, weil Vater Scheller zwei Särge schreinern durfte, die Brot, Schweineschmalz und eine Dreierreihe Sülzheringe einbrachten.
    Ulrich wusste mittlerweile, dass es sich auszahlen konnte, wenn er für Ortsansässige unaufgefordert kleinere Arbeiten verrichtete. In Staòkov hatte er in dieser Hinsicht Pech gehabt, aber später in Taus verdiente er sich vier Eier und einen Gerstenfladen, weil er eine Wäscheleine, die abgerissen und zudem so brüchig war, dass sie ihren Zweck nicht mehr erfüllen konnte, durch etliche verknotete Seilstücke ersetzte und sie auf einer morschen Trittleiter balancierend zwischen einem Apfelbaum und einem Telegrafenmasten straff spannte. Als die alte Frau, der er damit offenbar einen großen Dienst erwiesen hatte, mit einem Korb voll nasser Wäsche aus ihrer Kate kam, half er ihr auch noch beim Aufhängen. Kaum blähte sich das letzte Laken im Wind, sagte die Alte: »Komm in die Stub, Buberl, komm, geb ich dir noch Stickel von gerbernem Zopf.«
    Tags darauf in Klattau (das Ulrich über alle Maßen faszinierte, weil unausgesetzt eine Flak in den Himmel blaffte, über den Schwärme von Flugzeugen schnittig und ungerührt hinwegzogen) bekam er drei Hefeschnecken mit Johannisbeermarmelade für nichts weiter als das Einfangen eines fetten Kaninchens, das sich irgendwie aus dem Hasenstall gemogelt hatte.
    Was die anderen Flucht genannt und so gescheut hatten, offenbarte sich tatsächlich als Abenteuer, unbestritten! Ulrich hatte es sich ja gleich gedacht.
    Von Klattau aus marschierten die Schellers in Richtung Eisenstein. Das Bellen der Flak begleitete sie. Doch eines Morgens war alles still.
    Selbst die Worte der wenigen Menschen, die sie auf dem Weg trafen, waren nur geflüstert: »Die Deutschen haben kapituliert, bedingungslos.«
    Das war doch das Ende dieses schrecklichen Krieges – oder etwa nicht?
    Aber je näher die Schellers der frisch markierten Grenze zwischen Bayer- und Böhmerwald rückten, desto feindlicher zeigte sich ihr Umfeld. Die Nachtlager, die sie sich zu nutzen gezwungen sahen, waren beklagenswert, die Kost kärglich. In Schüttenhofen gab es nur ein paar rohe Kartoffeln zu essen. Ulrich hatte die halbverrotteten Knollen in einem feuchten Kellerloch gefunden und kurzerhand mitgenommen. Die ganze Familie legte sich hinter einem morschen Bretterzaun zum Schlafen nieder.
    Ende Mai richteten sich die Schellers im Güterbahnhof Eisenstein auf einem abgehängten leeren Kohlewaggon für die Nacht ein. Es war schon rundherum hell, als Ulrich am Morgen die Augen aufschlug, aber direkt über ihm schwebte ein Gesicht, so schwarz wie die eben vergangene Nacht. Ulrich wurde schlagartig munter. Diese platte Nase, die aufgeworfenen Lippen, der krause Wollhaarschopf über der brikettfarbenen Stirn! Er war es, kein Zweifel, das musste der Neger sein, dessen Foto Ulrich in Großvater Schellers Bildband »Die Völker der Erde« so oft angestarrt hatte.
    Bevor Ulrich sich schlüssig werden konnte, wie hier völkerverbindend zu agieren sei, zückte der

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