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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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fragte er und nickte dem nun leeren Kinderwagen zu.
    Anna sah ein, dass sie sich wohl oder übel ein Zugeständnis abringen musste, wenn sie sich nicht ins Unrecht setzen wollte. Zwei zerquetschte Zwetschgen, räudig oder nicht, forderten Satisfaktion. Sie hob eben dazu an, die Konditionen zu diktieren, da spritzte der Kleine weg und auf die Gruppe von Apfelbäumen zu, unter denen Anna das Fallobst angehäuft hatte. Sie fasste den Größeren ins Visier.
    »Kann der Rotzlöffel net …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende, weil auch der ältere Bub plötzlich davonstob.
    »Herrgott.« Anna sah ihm nach, und im selben Moment ging ihr auf, wo die beiden hinwollten. Sie waren an dem kleinen Fallobst-Hügel blicklos vorbeigerannt und hielten auf schräg in die Luft ragende Holzstäbe zu.
    Schräg? Gerda! Renate! Renate, die Mistmatz!
    Renate hatte Gerdas Ställchen umgestoßen, natürlich, wie hätte es von selbst kippen können. Anna würde dem Balg dafür den Hintern versohlen, aber gründlich.
    Dahinterzukommen, dass Renate Gerdas Ställchen überhaupt nicht angefasst hatte, hätte Annas Absicht kaum geändert. Denn wie auch immer sich die Sache zugetragen hatte, in Anna Langmosers Augen trug Renate die Schuld an der misslichen Lage, in der sich Klein-Gerti jetzt befand.
    Ganz unrecht hatte sie nicht.
    Renate war mit Zwetschgenmatsche in den Händen zu Gerdas Ställchen gelaufen und hatte ihr das klebrige Zeug unter die Nase gehalten, und zwar exakt so lange, bis Klein-Gerti sicher war, dass sie das bräunliche Mus haben musste. Als sie danach langen wollte, trat Renate einen Schritt zurück. Gerda streckte die Händchen verlangend durch die Gitterstäbe, und Renate wich weiter zurück, bis Gerda Kopf und Hals, beide Ärmchen und zwei gekrümmte Beinchen zwischen den Holzstäben hindurchgezwängt hatte.
    »Und dann, wie meine kleine Gerda zwischen den Latten gesteckt ist, hat die Renate, das gemeine Luder, den Laufstall umgeschubst«, sollte Anna Langmoser später steif und fest behaupten und mit Grabesstimme hinzufügen: »Das Balg wollte mein Kind umbringen.«
    Vermutlich folgte aber Gerdas Käfig bloß der Schwerkraft, weil ihr Gewicht gegen die talwärtige Seite drückte. Jedenfalls kippte er, und Gerdas Nase bohrte sich tief in einen frisch aufgeworfenen Maulwurfshaufen.
    Diese Entwicklung konnte Renate nun wirklich nicht berechnet haben. Und erst recht konnte sie nicht vorausgesehen haben, dass mit lebensbedrohlicher Dynamik lockere Erde in Gerdas Mund und Näschen quellen würde, feinkrümelige, vom emsigen Maulwurf aufgescharrte Erde, begierig angesaugt durch den unwiderstehlichen Drang nach Atemluft. Erde füllte Gerdas aufgerissenes Mäulchen und machte sich – inzwischen feucht von Rotz und Spucke – auf den Weg, ihre Bronchien zu verstopfen.
    Doch in diesem kritischen Moment war Ulrich bereits zur Stelle und richtete das Ställchen auf. Gerda hing in den Stäben wie gekreuzigt, aber Ulrich vertändelte keine Sekunde damit, sie aus dieser Lage zu befreien. Er ließ sie hängen, wie sie hing, bog seinen von Ruß und Dreck geschwärzten Zeigefinger zum Haken und holte einen dicken Erdklumpen aus ihrem vergeblich nach Luft schnappenden Mund. Er kratzte ihr noch etliche Brösel aus den Nasenlöchern, bevor Anna ihn rüde wegstieß.
    Ulrich und Anton, der in guter Hoffnung auf verdienten Lohn den Kinderwagen herangeschoben hatte, traten abwartend auf den Grasbüscheln unter dem Apfelbaum herum. Anna untersuchte indessen Klein-Gerti, wischte, herzte, tätschelte und fand kein Ende.
    Die Zeit verstrich. Ulrich und Anton begannen sich zu langweilen, deshalb machten sie sich an dem verwaisten Laufstall zu schaffen. Sie installierten das Ställchen kippsicher am Baum, rieben die Erdklümpchen von den Gitterstäben, betasteten die Verzapfungen und Verleimungen und würdigten die fachmännische Hand, die die Rundstäbe in den Holzrahmen eingepasst hatte.
    »Gutste Arbeet«, meinte Anton, und Ulrich stimmte ihm zu: »Unbestritten.« Er hätte der Werkstatt, in der das Ställchen gebaut worden war, gern einen Besuch abgestattet. Schade, dass es ihm nicht vergönnt war. Von Gerdas Onkel Willi hätte Ulrich eine Menge lernen können.
    Ein leiser schlesischer Wind wollte gerade schemenhafte Bilder von Großvaters Drehbank auf dem Habendorfer Dominium in Ulrichs Gedanken wehen, als Anna Langmoser mit dem Zupfen und Wischen und Pusten aufhörte.
    »Jetz machts es schon voll, euer Wagel, und dann verziehts euch wieder, bevors

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