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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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gespannt waren, im Deggendorfer Kolpingsaal sesshaft. Eine Siedlung aus elf Deckenhäusern drängte sich bereits an den Saalwänden entlang.
    Vater Scheller sah sterbenskrank aus. Dennoch musste er vor den Ämtern anstehen, um Bezugsscheine und Berechtigungspapiere ausgestellt zu bekommen, die sich wiederum nur durch gottergebenes, geduldiges Anstellen in winzige Mengen Nahrhaftes und Wärmendes verwandeln ließen.
    »Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben«, klagte Mutter Scheller und legte ihrem fiebernden Ehemann eine von Hildes nassen Windeln auf die heiße Stirn.
    Trotz dieser Therapie beschlossen offenbar sämtliche Katarrhe, die sich Scheller im vergangenen halben Jahr in zugigen Schuppen beim Särgeschreinern geholt hatte, und sämtliche Infekte, die ihn auf schlammigen tschechischen Äckern im eisigen böhmischen Wind erwischt hatten und immer noch latent vorhanden waren, zu einer Lungenentzündung zu fusionieren. Die pathogene Allianz wucherte üppig auf den weiten Feldern nekrotischen Gewebes, das in Schellers Kinderzeit eine Population von Spulwürmern beim letzten Gefecht mit ihrem Erzfeind, dem Wurmfarn, hinterlassen hatte, wurde womöglich noch von Keimen genährt, die Wollis Erzeuger mit jener Eisenfeile in Schellers Organismus praktiziert hatte. Kurzum, hinter der aufgespannten Decke rang Scheller während der wärmsten Tage des August 1945 mit dem Tod.
    Dank seiner wurmstichigen Organe, die sich nun schwertaten, den Pneumokokken Paroli zu bieten, war Vater Scheller 1939 der Einberufung zur Deutschen Wehrmacht entkommen, die in den folgenden Jahren mehr waffenpflichtige Männer dahingerafft hatte als seinerzeit die Beulenpest in ihrer größten Blüte.
    Statistisch gesehen hatte also Scheller, zumal die Pest längst ausgerottet war, mit seinem Gebrechen die besseren Karten, auch wenn er mit glühendem Kopf und rasselndem Atem darniederlag, dort auf seinem Drei-Quadratmeter-Flüchtlingsclaim hinter dem löchrigen Deckenvorhang.
    »Nu weeß ich ieberhaupt keen Rat nich mehr«, schluchzte Mutter Scheller, als ihr klar wurde, dass der Festsaal katholischer Kolpingsgesellen weder mit Herd noch mit Feuerstelle ausgestattet war. Stumm sank sie in sich zusammen, unfähig, sich zu der ganzen Serie von Notbehelfen einen weiteren auszudenken. Aber das musste sie gar nicht mehr.
    Ulrich hatte bereits das halbe Dutzend selbst gebastelter Feuerstellen erspäht, das sich draußen an der nördlichen Hauswand entlangreihte, und er hatte drei davon genauestens inspiziert.
    Acht bis zehn brüchig-bröselige, rußige Ziegelsteine auf einem schmalen Streifen festgetretener Erde zu einem Karree oder Oval vereint, halbwegs geschützt vom überstehenden Dach des Gebäudes, schienen einen brauchbaren Kochherd zu ergeben.
    Mecht schnell gebaut sein, so ein Öfchen, dachte Ulrich, wenn das Material dafür zur Hand ist.
    Doch genau das war der springende Punkt.
    Ulrich besprach sich mit seinem Bruder, der es für opportun hielt, die Sache kriminalistisch anzugehen. »Mecht sich wohl eine Spur aufnehmen lassen, die zu Potte führt.«
    Die vielversprechendste Fährte lenkte die Brüder zum alten Deggendorfer Hafen und dort geradewegs in die Schutt- und Schrottberge. Die Scheller-Jungen jubelten. Baumaterial in Hülle und Fülle.
    Doch bevor sie sich an eine Auslese machten, nahmen sie sich Zeit für Studien und fertigten (mit einem Stöckchen in Lehm geritzt) verschiedene Skizzen des geplanten Objekts an. Letztendlich entschieden sie sich für ein rundes Gebilde, das in etwa so aussah wie ein Iglu mit Dachterrasse.
    Von dem Tag an, an dem die Brüder den Hafen entdeckt hatten, gelangen ihnen allerhand Fischzüge, die es ihnen ermöglichten, ein gut sortiertes Baustofflager zu unterhalten.
    Die Begeisterung darüber, den demolierten Deggendorfer Hafen quasi ausweiden zu können, nahm der trostlosen letzten Fluchtetappe den Stachel und bescherte Ulrich frischen Mut.
    Der Hafen spendete willig allerlei Grundstoffe für Dinge, die den Flüchtlingen gröblich fehlten. Und auch das Problem des Transports erübrigte sich, als Mutter Scheller nach einigem Zureden bereit war, ihren Jungen den ausgeleierten Korbkinderwagen zu überlassen, der vor Zeiten – in einem schlesischen Flecken namens Habendorf – Anton und Ulrich unter Apfelbäumen sanft geschaukelt und später Klein-Hilde auf Kleiderbündeln und Wäschepacken den größten Teil der Strecke vom Riesengebirge ins Donautal befördert hatte.
    In dieser inzwischen recht

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