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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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ramponierten Chaise karrte Ulrich Dutzende herrenloser Hafenziegel an der Friedenseiche vorbei und über den Pferdemarkt zum östlichen Stadtgraben. Er transportierte zerrissene Stahlgeflechte, angekohlte Balken, verflochtene Drahtknäuel und geschmolzene Blechteile. Anton schöpfte indessen brennbare Reste aus rauchenden Tümpeln, in denen sich erhitztes Schweröl selbst abgefackelt hatte.
    Ulrich und Anton hatten eine Freilandküche par excellence gebaut – mit Borden und Töpfen und Rührlöffeln, geschnitzt aus Zweigen der Friedenseiche.
    Aber was half der betörendste Blechnapf von der Hafenmole, wenn er leer blieb? Um ihn füllen zu können, mussten die Scheller-Brüder mit dem Kinderwagen kreuz und quer durch die abgemähten Felder holpern. So magnetisch sie der Hafen auch anzog, sie mussten ihn links liegen lassen und die Ackerlandschaft nach übrig gebliebenen Weizenhälmchen absuchen, mussten diese aus ihren Furchen zupfen und akribisch aufsammeln. Denn eine Kinderwagenladung Getreideähren brachte in der Frauenmühle ein ganzes Pfund Mehl samt Kleie ein.

3
    Das gefürchtete »Schauts nicht gleich, dass ihr verschwinds, Böhmacken, räudige«, verschärft durch beinharte Dreckbatzen, die niederbayerische Hände auf schlesische Köpfe schleuderten, hatte Ulrich und Anton bei der Ährensuche täglich weiter ins Hinterland getrieben.
    Im September 1945 kreisten sie eines Vormittags mit dem leeren Kinderwagen wieder einmal in den abgeernteten Feldern rund um den Himmelberg.
    Ziemlich weit oben an der Flanke des recht flachen Hügels hatte Anna Langmoser auf einem sanft geneigten Grasfleck nahe den Obstbäumen ein Laufställchen aus Holzstäben platziert. Darin robbte Klein-Gerti Gras und Klee beschnüffelnd herum, während Anna Fallobst für Kompott zusammenklaubte. Als sie sich einmal kurz aufrichtete, um einen wachsamen Blick hinüberzuwerfen, sah sie, wie sich Gerda an den Gitterstäben hochzog, eine Weile ums Gleichgewicht kämpfte und dann allerliebst auf den Hintern plumpste. Anna musste lächeln. War ihre Tochter nicht einfach bezaubernd? Und der Wiesengrund mit den sonnenbeschienenen Obstbäumen, er war so friedvoll-beschaulich. Sie hätte sich geradezu glücklich schätzen können, wäre da nicht Liesls Balg gewesen.
    Wie immer, wenn ihr Renate in den Sinn kam, begann es in Annas Busen zu grummeln und zu brodeln. Schlimm genug, dass es den Bankert überhaupt gab, aber dass man ihn ihr als Schützling aufgezwungen hatte, setzte dem Ganzen die Krone auf. Renate war inzwischen fast vier Jahre alt, und sie war Anna ein dreifacher Dorn im Auge.
    »Es is zum Aus-der-Haut-Fahren mit dem Balg!« Anna formte mit beiden Handflächen eine Sonnenblende über ihren Augen und schwenkte den Blick langsam im Halbkreis, bis sie Renates rote Bluse entdeckte.
    »Wo rennst denn hin, Renate? Da bleibst, du Besen!«
    Der Ruf verhallte ungehört.
    »Was hat uns die Liesl bloß für ein Biest ins Nest gsetzt«, schimpfte Anna vor sich hin. »Ausgfuchst is der Fratz wie ein böhmischer Hausierer, hinterfotzig wie ein slowakischer Viehhändler. Wenn sie’s schon verstehen tät in dem Alter, dann könnt man glatt meinen, dass sie uns unser Vorrecht mit Bosheit heimzahlt. Es is, als wollt sie sich rächen dafür, dass sie nie einen Anspruch auf den Hof haben wird, nicht mal auf ein Holzspreißel davon.«
    Anna hatte es gründlich satt, das widerborstige Gör beinahe rund um die Uhr zu bewachen. Aber sie hatte nicht gewagt, sich gegen den Willen ihrer Eltern aufzulehnen. Und deshalb musste sie nun Tag für Tag dafür sorgen, dass Renate abends unversehrt in den Schoß der Familie zurückkehrte.
    Sie beschattete erneut die Augen und versuchte, Renates Ziel auszumachen. Doch dieses Ziel rückte mit Renate als Nachhut bereits heran.
    »Geht mir noch ab, das Flüchtlingsgschwerl«, murmelte Anna. »Zupfts euch, Bürscherl!«, zischte sie, als Ulrich und Anton einen Steinwurf vor ihr stehen blieben.
    Sie wollte eigentlich noch drastischer werden, da sah sie, wie Renate in den Kinderwagen langte, den der ältere der Buben vor sich herschob, und zwei räudige Zwetschgen herausangelte. Das Gör betrachtete die Beute einen Augenblick lang, dann vermatschte sie die Zwetschgen blitzschnell zu Mus.
    Anna verzog angewidert das Gesicht und wusste nicht, wen sie stärker verabscheute, das Balg oder die beiden Böhmacken, die sie angafften. Plötzlich machte der kleinere der beiden den Mund auf.
    »Mecht mir was kriegen von die Äpfel?«,

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