Der kleine Fluechtling
da noch mehr durcheinanderbringts.«
Ulrich und Anton klaubten Äpfel zusammen, so schnell und so viele sie konnten, und häuften sie in den Kinderwagen. Hin und wieder traf sie einer, an der Schulter oder am Bein, jedoch nicht aus den Baumkronen, sondern von hinter dem Berg aus Fallobst, den Anna zusammengetragen hatte. Es war nicht schwer zu erraten, wer das Bombardement verursachte. Ulrich wog bereits einen besonders harten Apfel in der Hand, um zurückzuschlagen, doch dann überlegte er es sich anders und legte ihn in den Wagen. Mecht mer doch keen kleens Mädel attackieren!
Die Apfelpyramide ragte ein schönes Stück über das zurückgeklappte Kinderwagendach hinaus, was allerdings dazu führte, dass die Scheller-Jungen den ganzen Weg zurück mit der Instabilität ihrer Ladung zu kämpfen hatten. Auf dem Donaudamm mussten sie die bröckelnde Spitze abtragen und ihre Hemden mit Äpfeln füllen. An der Mündung des Bogenbachs, der donauabwärts linker Hand zufließt und Deggendorf von Schaching trennt, mussten sie die Abhänge der geköpften Pyramide ausdünnen und den Überschuss in ihre Hosen hineinstopfen. Schwer bepackt mit Äpfeln erreichten sie das Kolpinghaus, Verluste hatten sie keine zu beklagen.
Am Himmelberghof, wie auch in der Zeltstadt im Kolpinghaus, wurde in den nächsten Tagen oft Apfelmus zubereitet. Anna Langmoser würzte es mit Nelken und Zimt, süßte es mit Sirup und füllte es in Pfannkuchen oder Strudelteig. Familie Scheller schluckte es naturbelassen. Die Basis der Apfelpyramide brachte zudem im Tauschgeschäft vier Sülzheringe und ein Graubrot ein.
Zum Glück gab der Herbst 1945 noch dieses und jenes andere Essbare her. Der frühe Oktober versorgte die Schellers mit vier Kinderwagenladungen winziger Kartöffelchen, die Anton und Ulrich in eifriger Nachlese aus weit verstreuten Äckern herausgeklaubt hatten. Ein trüber Mittoktobertag spendete zwei Fuhren ziemlich wurmiger Spätzwetschgen aus einem Bauerngarten. Allerseelen lieferte eine Handvoll Schweineschwänze aus dem Schlachthof, die sich in der Suppe hervorragend machten.
Ende November fiel der erste Schnee. Und damit kam der Winter.
In diesem Winter hätte Ulrich eine ganze Menge darum gegeben, mit Gerda Langmoser tauschen zu dürfen. Sogar mit einem Bankert wie Renate hätte er liebend gern den Platz getauscht. Aber keiner ließ ihm die Wahl.
»Heut is Böhmschwemm, heut is Böhmschwemm«, grölte eine Horde siebenjähriger niederbayerischer Holzköpfe vor den Fenstern der Knabenschule.
Es war Samstag, und wie an jedem Samstag hatte der Pedell den Badeofen im Keller der Schule für die Flüchtlingsfamilien aus dem Kolpinghaus beheizt.
»Böhmacker-Hosenkacker, heut is dein Tag, musst schrubben und rubbeln, dann geht der Grind ab.«
»Ich mecht se priegeln, windelweich, dass die das meschante Maulwerk keen eenmal nich mehr ufkriechen«, schimpfte Anton aus dem Holzzuber heraus.
»Priegeln – verdreschen, ufkriechen – aufbringa, keen eenmal – nimmer«, murmelte Ulrich versonnen.
Schon vor Wochen war es ihm klar geworden: Wer den richtigen Dialekt draufhat, der gehört dazu, egal wie er heißt und wo er wohnt – selbst wenn er Spulwurm heißen und in einem Scheißhaus wohnen würde. Und außerdem hatte Ulrich begriffen, dass es unsinnig und dumm war, an einer Mundart zu hängen, deren Heimat inzwischen ebenso wenig erreichbar schien wie die Milchstraße. Für die Schellers spielte die Musi jetzt hier in Deggendorf, und zwar auf bairisch.
Sie spielte in diesem Winter allerdings so mies, dass Ulrich manchmal ein Stückchen Habendorf vor seinem inneren Auge vorüberziehen ließ. Um den Hunger zu vergessen, um die groben Hänseleien zu überhören, um nicht in diesem Deckengehäuse im Kolpinghaus zu ersticken.
Wie es wohl auf dem Dominium so geht?, fragte sich Ulrich am Weihnachtstag 1945 wehmütig, während er Wassersuppe löffelte, in der ein paar Rübenschnitze schwammen. Was macht der Großvater? Hängt er gerade Speckseiten auf, gießt er Buttermilch in eine Kanne, walzt er Hafer, wirft er den Einzylinder an? Wie sieht es in Habendorf jetzt aus? Sind die Wänigs später doch noch nach Anderswo geflüchtet, oder bestellen sie im kommenden Frühjahr wieder ihren Kartoffelacker hinter dem Haus? Wo treibt sich Wolli-Mausgesicht herum? Ob er heute auch noch eine Butterstulle und eine Dropsrolle gegen ein erstklassiges Flugzeugmodell tauschen würde?
Ulrich seufzte und schluckte seinen letzten Rübenschnitz.
Er sollte
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