Der kleine Fluechtling
nie erfahren, was sich nach der Flucht der Schellers im Heimatort zugetragen hatte, denn nur wenige wussten, dass Gott an einem diesigen Märztag 1945 in Habendorf ein ziemlich kräftiges Großes Amen gesprochen hatte.
4
Die Ereignisse jenes Märztages läuteten sich mit einem Trupp Rotarmisten ein, der frühmorgens auf dem Marsch von Reichenbach nach Langenbielau war.
Der müde, ausgelaugte Kommandant ließ die Zügel schon lange schleifen, sodass sich seine Kolonne meilenweit auseinanderzog. Auf halber Strecke schwenkte die Vorhut nach links, eben auf Langenbielau zu, was allerdings die Nachhut nicht mitbekam.
Deshalb zottelten zehn schlecht gelaunte Weißrussen geradeaus weiter nach Habendorf. Unterwegs ließen sie feinsten französischen Cognac aus den Beständen eines preußischen Junkers kreisen.
Die Russen soffen, weil sie das auch zu Hause taten; sie soffen, weil sie Heimweh hatten und weil sie jeden Einzelnen von den siebentausendsechshundert Überlebenden im Lager Auschwitz, wo sie vier Wochen zuvor vorbeigekommen waren, vergessen wollten. Die Russen soffen, weil sie sich nicht daran erinnern mochten, was sie sonst noch alles gesehen hatten in diesem Krieg.
Als Habendorfs Häuserzeile in Sicht kam, stiefelten sie unverdrossen weiter, denn sie dachten, nach diesen paar Katen müsse hinter der Kurve das gesuchte Langenbielau auftauchen. So kamen sie zum Dominium. Dort fanden sie Großvater Scheller.
Er war stoisch an diesem Ort geblieben, weil er seit 1929 hier wohnte und weil er sich vor dem Advokaten dazu verpflichtet hatte, das Dominium nicht zu verlassen, solange ihn der Baron nicht rief.
Jetzt kam Gott dem Baron zuvor.
Es blieb den Rotarmisten gar nichts anderes übrig, als Scheller zu erschießen. Sie mussten den Alten erledigen, um an den geräucherten Schinken, ans Eingelegte und ans Gekelterte zu kommen und sich in die Federbetten legen zu können.
Als Großvater Scheller bereits kalt hinter der Scheune lag, entdeckten die Rotarmisten noch den selbst gebrannten Vogelbeerschnaps, den der Baron eigentlich dem Volkssturm zugedacht hatte. Sie verdünnten den klaren Schnaps mit dem goldenen Cognac aus ihren Tornistern. Das Gemisch streckte sie einige Zeit nieder.
Am späten Nachmittag stellten sie fest, dass die Landstraße hier am Dominium endete.
Daraus folgte eines logisch: Sie waren vom Weg nach Langenbielau abgekommen. Na schön, dann eben marsch zurück, dawai .
Sollten sich an diesem Morgen, an dem die Rotarmisten aufkreuzten, noch Bewohner in Habendorf befunden haben, dann hatten sie sich inzwischen alle aus dem Staub gemacht. Alle außer Großvater Wänig, der seinen Webstuhl ebenso wenig zu verlassen gedachte wie Großvater Scheller das Dominium – wir weben, wir weben.
Marie war bei ihm geblieben, und mit ihr wohl oder übel auch Wolli.
Als die Russen die Dorfstraße wieder heraufzogen, hörten sie das laute Wuchten von Großvater Wänigs Webstuhl. Sie gingen dem Geräusch nach, drangen in Wänigs hintere Stube vor und fanden Großvater Wänig fest verhaftet mit seinem Hocker.
Niemand wird je erfahren, ob Großvater Wänigs Herz bereits beim Anblick der Eindringlinge versagte oder ob der russische Gewehrkolben, der ihm das Genick brach, die für einen befriedigenden Herzschlag erforderlichen elektrochemischen Impulse stoppte. Wie auch immer, Wänig sackte mausetot vornüber.
Vielleicht hätten die Rotarmisten nun kehrtgemacht und eilends ihren Marsch nach Langenbielau fortgesetzt, wäre nicht plötzlich ein leises Wimmern zu vernehmen gewesen. Sie sahen sich um, stocherten hierhin, schlugen hier und dort ein Möbelstück in Trümmer und förderten irgendwann Marie Wänig zutage.
Marie war weder alt noch hässlich, dafür musste sie leiden. Die Russen bereiteten ihr verzehnfacht die gleiche Schmach, die ihr vor Jahren Wollis Erzeuger angetan hatte.
Marie hatte Habendorf eigentlich längst verlassen wollen. Schon Weihnachten ’44 hatte sie ihre und Wollis Sachen gepackt. Sie wäre gern zusammen mit den Schellers gegangen. Wolli, hatte sie gedacht, sollte seine Freunde um sich haben. Aber sie wagte sich nicht fort.
Wie hätte sie ihren Vater zurücklassen können, allein, hilflos, störrischer denn je, nachdem im Herbst seine Frau zu Grabe getragen worden war? Maries Geschwister, die gesamte Wänig-Armee, war längst in alle Winde verstreut. Zwischen den Kriegsgefangenenlagern des sowjetischen Gulag und den Wüstengräbern von El Alamain gab es tote und lebende Wänigs, doch
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