Der kleine Fluechtling
selbst die Lebenden konnten sich kaum noch an Habendorf erinnern.
Die nächste Fluchtgelegenheit hatte sich für Marie zwei Wochen später geboten, als ein Lastwagen vom Roten Kreuz durch Habendorf rumpelte. Der Fahrer rief die Bewohner zum Verlassen des Dorfes auf. Marie wagte nicht, sich blicken zu lassen.
An Lichtmess bot ihr der letzte Habendorfer einen Platz auf seinem Fuhrwerk an. Marie hätte bittergern mitfahren mögen, stattdessen lehnte sie ab und blieb.
Sie blieb in Habendorf und starb an jenem diesigen Märztag ’45 – geschunden und vielfach geschändet – durch einen Faustschlag auf den Kehlkopf. Mag sein, dass der Russe, der zuschlug, gar nicht nach Maries Leben getrachtet hatte. Vielleicht wollte er nur ihrem nervtötenden Wimmern ein Ende machen. Das gelang ihm, Marie schwieg für immer still. Die Webstube war für zwei von den drei allerletzten Habendorfern zum Grab geworden.
Kein Kranz, kein Kreuz, kein Grablicht sollte Marie und ihrem Großvater vergönnt sein. Kein »Tagblatt« sollte eine Todesanzeige drucken. Nicht eine einzige Zeile von all den Sprüchen, die Marie ein Leben lang aus Zeitungen und Druckschriften ausgeschnitten hatte, sollte ihrer gedenken. Niemand sollte je den Vers finden, den sie für Großvater Wänigs Todesanzeige schon vor langer Zeit ausgesucht hatte:
»Du hast uns viel bedeutet im Leben, möge Gott dir ewigen Frieden geben.«
Die Rotarmisten zogen ab.
Niemand ahnte, dass Wolli-Mausgesicht in einer Garnkiste kauerte wie das siebte Geißlein in der Standuhr.
5
»Böhmacker-Hosenkacker, was tust dir heut braten? Maden und Wanzen, Flöh und einen Ratzen!«
Die Gassenbuben frotzelten und lärmten. Ihre Bosheit schmerzte Ulrich in letzter Zeit doppelt. Zum einen weil ihn diese Jungen, die er gern zu Freunden gehabt hätte, nach einem ganzen Sommer, einem kompletten Herbst und einem halben Winter immer noch triezten wie einen streunenden Kater; zum andern weil das Spottlied nicht nur garstig, sondern auch berechtigt war.
Denn was bitte sollte Mutter Scheller bei Schneesturm und Schafskälte draußen auf dem Ziegelherd braten? Läusefleisch? Holzwurmklopse?
Es gab schlicht und einfach nichts mehr zu beißen.
Das erste amerikanische CARE -Paket war noch nicht einmal gepackt worden, und auch wenn eineinhalb Jahre später das zweimillionste in Deutschland eintreffen sollte, die Schellers würden nicht ein Einziges davon zu Gesicht bekommen haben.
Obwohl gewiss war, dass ihnen kein Erfolg vergönnt sein würde, machten sich Ulrich und Anton jeden Morgen zu einer winterlichen Suche nach Schmalz und Kartoffeln auf, nach Brikettkrümeln und trockenen Holzspreißeln, nach Wolljacken und Ohrenwärmern, nach allem, was sich irgendwie verwerten ließ – und landeten am Ende meist wieder im verwahrlosten Deggendorfer Hafen.
Nicht dass dort noch irgendetwas aufzutreiben gewesen wäre, der Hafen war inzwischen gefleddert wie die Pyramiden von Giseh, aber das Herumstöbern und -streunen lenkte hie und da vom Magenknurren ab, von kalten Füßen und klammen Fingern.
In diesem Winter 1946 hielt sich der Frühling eisern zurück. Es ging bereits auf den April zu, und immer noch war es kalt wie auf Nowaja Semlja am Neujahrstag.
Ulrich stiefelte missmutig im Hafengelände herum, blies auf seine Fingerkuppen, klemmte die froststarren Hände in die Achselhöhlen, wippte auf eisigen Zehenspitzen und horchte – zuerst gleichgültig, später zunehmend gespannter – auf das Gezänk einer Handvoll Deggendorfer Pimpfe. Der eisige Wind trug ihm Wort für Wort zu. Mitten in den Ruinen hatten die Buben, so verstand Ulrich, etwas Interessantes entdeckt. Etwas, an das sie partout nicht herankamen. Etwas, das die Bande in Aufruhr versetzte.
Bei ihren Expeditionen im Hafen hielten es Ulrich und Anton normalerweise für opportun, mindestens drei Schutthalden Abstand zwischen sich und anderen Schrottklaubern zu wahren, damit sie sich keine Böhmacker-Hosenkacker-Reime anhören mussten.
Doch der Krawall heute, dessen Ursprung nicht auszumachen war, sosehr Ulrich den Hals auch reckte, erforderte eingehende Nachforschungen. Behutsam begann er, dem Ort des Geschehens näher zu rücken.
Endlich auf Sichtweite, erspähte er den Gegenstand, um den der ganze Wirbel tobte.
Gute sechs Meter über dem Boden, auf einem Stück brüchiger Mauerkrone, hing – schief und erkennbar instabil – ein verbeulter Kanonenofen, so als wäre er wie ein Pechvogel von Fallschirmspringer versehentlich dort
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