Der kleine Fluechtling
Totenstille. Wolli hockte dumpf und empfindungslos in der Garnkiste. Ein-, zweimal schlief er ein, wachte auf, schlief wieder ein.
Nach Stunden des Hockens begannen ihn seine Beine zu piesacken. Sie wollten ausgestreckt werden, gedehnt und bewegt. Da richtete sich Wolli vorsichtig auf, hob den Deckel an und lugte über den Kistenrand. Er erkannte den Webstuhl, vor und neben dem ein Haufen Trümmer lag. Das bedeutete wohl, alle waren fort.
Nu also auch Großvater und Mutter, dachte Wolli. Natürlich waren sie fortgegangen wie alle anderen Habendorfer. Doch ihn hatten sie zurückgelassen. Zur Strafe vermutlich, weil er sich heute Morgen geweigert hatte, Garnreste aufzuwickeln, und lieber im Dorf herumgestreunt war, bis er Soldaten kommen sah und sich vor ihnen wieder in die Stube flüchtete, wo ihm die Mutter auftrug, sich vorsichtshalber in der Garnkiste zu verstecken. Seine Mutter und sein Großvater mussten sich den Soldaten angeschlossen haben oder waren von ihnen einfach mitgenommen worden. War es ein Fehler gewesen, sich gehorsam zu verstecken? Aber die Soldaten hatten so bedrohlich ausgesehen, und irgendetwas, dem er nicht auf den Grund gehen wollte, sagte Wolli, dass sie seine Mutter und seinen Großvater nicht gut behandelt hatten.
Er wühlte sich aus der Garnkiste, tapste ohne einen zweiten Blick in die Runde aus der Stube, schlurfte die Treppe hinunter und stakste aus dem Haus.
Im Dorf war es im wahrsten Sinne des Wortes mucksmäuschenstill, denn nicht einmal die Mäuse regten sich.
Wolli lief blind an der Häuserzeile entlang, weiter und weiter. Ein Gatter versperrte ihm plötzlich den Weg, und er merkte, dass er aufs Dominium zugelaufen war. Im selben Moment meldete sich sein Magen. Vor Wollis Augen tauchte das Bild eines geräucherten Schinkens auf. Warnend klang es in seinen Ohren: »Verboten!«
Aber alle waren ja fort. Alle, bestimmt auch Großvater Scheller.
Wolli schlüpfte durchs Gatter – das so lose in den Angeln hing, als hätte es seine Bestimmung vergessen –, rannte über den Hof und betrat das Herrenhaus.
Früher, bevor er in Ungnade gefallen war, hatten ihn die Scheller-Brüder mehrmals hierher mitgenommen. Aber da hatte alles noch ganz anders ausgesehen als jetzt.
Wolli blickte sich erstaunt um und begriff plötzlich, dass Zerstörer am Werk gewesen waren, Zerstörer und Diebe. Räuber, die womöglich alles Essbare mitgenommen hatten.
In dem Durcheinander aus zerschlagenen Möbeln, aufgeschlitzten Federbetten und zerbrochenem Geschirr fand er tatsächlich weiter nichts Nahrhaftes als einen trockenen Brotkanten und eine verkümmerte Gurke. Trübselig setzte er sich auf den Boden und nagte daran herum. Wieder tauchte der Schinken vor seinen Augen auf. Der herrliche Schinken, den die Räuber mitgenommen haben mussten. Da kam ihm auf einmal in den Sinn, dass er Anton einmal mit vollen Getreidesäcken neben der Treppe, die ins Obergeschoss führte, hatte verschwinden sehen.
Tät de Scheller-Großvater etwa een geheimen Speicher hinter die Paneele versteckt habn?, fragte sich Wolli.
Er kaute und dachte nach. Der Gutsverwalter war schlau und gerissen. Hatte er das nicht damit bewiesen, dass er Wolli beim Stehlen ertappte? Womöglich hatte Großvater Scheller schon längst geargwöhnt, dass Wolli nicht der einzige Dieb war, den die Bestände des Dominium zu fürchten hatten. Womöglich misstraute er allen Habendorfern, allen Besuchern, allen Bediensteten des Dominiums, allen Soldaten …
Langsam aß Wolli den Brotkanten und die Gurke auf. Dann erhob er sich, schlich zur Stiege und begutachtete die Seitenverkleidung. Für einen wie ihn, der sich schon als Krabbelkind darin geübt hatte, in Taschen, Beuteln, Schatullen und Henkelkörben nach Verborgenem zu stöbern, war es nicht schwer, das Scharnier zu entdecken, das ihm die geheime Tür verriet. Wenige Minuten später stand diese Tür offen.
Dahinter fand Wolli, wovon er geträumt hatte, und dazu noch eingeweckte Blutwurst, Fässer mit Sauerkohl und eingelegten Gurken, Säcke voll Haferflocken, Körbe mit getrockneten Birnen.
Man kann nur vermuten, was ihn dazu trieb, den Eingang zum geheimen Vorratslager umgehend zu verschließen und zu verbarrikadieren. Vielleicht dachte er, geheim muss geheim bleiben. Vielleicht hatte ihn die Szene, die er in der Weberstube zumindest akustisch miterlebt hatte – obwohl mehr unter der Oberfläche schlummernd als wirklich präsent –, derart traumatisiert, dass es ihn danach verlangte, im Dunkel
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