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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Rätsel aufgab.
    »Die Rita hätt doch jedes gstandene Mannsbild im ganzen Umkreis haben können. Warum nimmt sie den Krüppel?«, raunte es während der Hochzeitsfeier in den Kirchenbänken.
    »Die Rita is hübsch, und gscheit is sie auch, sogar der Doktor aus Schwarzach hätt ein Aug auf sie gworfen.«
    »Einen grünen Daumen hat die Rita, zieht Radieserl, groß wie Runkelrüben. Der Ludwig von der Gärtnerei hätt sie mit Handkuss gnommen.«
    »Kann schon sein, kann alles schon sein. Aber bekommen hat sie der einarmige Max.«
    »Drei Zimmer mit Garten für zwei Leut, weil’s das braucht«, murrte Anna, während sie die Schranktür schloss. Sie wandte sich dem Fenster auf der Westseite zu, stützte sich mit beiden Händen auf den Sims, blickte über die Äcker zum Donauufer hinüber und gönnte sich eine ausgiebige Portion Missgunst.
    Anna haderte mit Ritas schickem Wohnzimmersofa vor der Blümchentapete, mit Ritas Wolkenstores und mit dem dreiteiligen Spiegel in Ritas Schlafzimmer.
    Sie war schon drauf und dran, in Zornestränen auszubrechen, da fiel ihr ein, dass es ganz vertrackt nach hinten losgehen konnte, wenn man sich heutzutage vom Wohnraumkuchen ein Stück zu viel abschnitt.
    »Könnt bald ein Haufen Flüchtlingsgschwerl vor dem Max seiner Tür stehn«, sagte sie laut und unmissverständlich hoffnungsvoll. »Die Böhmacken wern ihm einen Einquartierungsbescheid vom Bürgermeister vor die Nasen halten, und dann wern sie sich auf der Rita ihr neues Sofa fläzen.« Anna lächelte zufrieden. Ja, genau so würde es kommen.
    Vergangenen Herbst – Ende Oktober ist es gewesen, entsann sich Anna – hatten die Engländer fünfzigtausend Berliner Kinder aufs Land verfrachtet, weil in der Stadt kein Auskommen mehr war für sie. Das muss man sich einmal vorstellen, überlegte sie, fünfzigtausend Kinder, so ein Haufen. Und inzwischen kommen die bis zu uns herunter. Erst neulich hatte sie gehört, dass die Eisenbahnzüge auch im Deggendorfer Landkreis ständig elternlose Kinder ausspuckten. Tag für Tag purzelten von irgendwo Kinder daher, verwaiste, verlorene, unbekannte. Aber natürlich nicht nur Kinder. Aus dem Osten, hieß es, kamen jetzt waggonweise Vertriebene mit Sack und Pack, stiegen aus, waren da und hatten kein Dach über dem Kopf. Und der Veit-Bäcker hatte ihrem Sepp gesagt, dass die Tschechen noch längst nicht fertig seien mit dem Vertreiben.
    Da hatte Langmosers Arbeitgeber recht. Erst Ende Oktober 1946 sollte die Tschechoslowakei offiziell die Aussiedlung von zwei Komma acht Millionen Deutschen für abgeschlossen erklären. Bis dahin würde jedes Stübchen und jedes Kabüffchen in der Grenzregion belegt sein.
    Anna hatte es ihm ja nicht wirklich an den Hals gewünscht – oder doch? Jedenfalls hätte Max ein weit höherer Beamter sein müssen, um zusammen mit Rita unangefochten drei Zimmer bewohnen zu dürfen, während die Zahl der Obdachlosen im Landkreis täglich stieg. Ende März ’46 wurde er aufs Gemeindeamt bestellt, aber trotz allem hatte er Glück.
    Auf Max wartete weder eine verwaiste Geschwisterschar samt Onkel und Tante noch eine unterernährte Schwangere mit hustendem Kleinkind und hinfälliger Schwiegermutter. Ritas schmuckes Wohnzimmerchen musste weder zum Asyl noch zum Lazarett umfunktioniert werden. Für den Buben, den Max mit nach Hause brachte, reichte die kleine Kammer neben der Küche.
    Dieser Bub, mager, mausgesichtig und verhuscht, machte den Mund ausschließlich dazu auf, Butterbrote mit Rübensirup hineinzustopfen. Er aß und schlief, und dazwischen muckste er kein Sterbenswörtchen.
    Ungefähr nach drei Tagen begann er, wie ein räudiger Köter eine Weile in allen Ecken und Winkeln der Wohnung herumzuschnüffeln, bevor er sich wieder auf seiner Matratze zusammenrollte.
    Mitsamt dem Buben hatte Max beim Gemeindeamt einen Zettel erhalten, auf dem nur fünf Worte standen: »Wolli Wänig, acht Jahre alt«. Mehr konnten Max und Rita über das Kind nicht in Erfahrung bringen, beim Gemeindeamt nicht und bei dem Buben erst recht nicht.
    Keinem Neuhausener sollte je zu Ohren kommen, was Wolli an jenem diesigen Märztag ’45 und in den darauffolgenden Monaten erlebt hatte.

2
    Nachdem sie Marie Wänig das Wimmern ausgetrieben hatten, zogen die Rotarmisten also ab. Irgendwann fanden sie schließlich zu ihrer Truppe zurück, legten sich nieder und schliefen ihren Rausch aus. Habendorf hatten sie längst vergessen.
    In der Stube von Großvater Wänig herrschte begreiflicherweise

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