Der kleine Fluechtling
stand.
Irritiert starrte Max in das Mausgesicht. Was redete denn dieses Kind für einen Stuss zusammen? »Was das anbelangt« – war der Bub nicht ganz dicht?
Wie hätte Max ahnen können, dass sich diese Floskel in Wollis Hirn festgesetzt hatte und sich nun vordrängelte, sobald er den Mund auftat?
»Der Bub möcht uns klarmachen«, sagte Rita, »dass der Veit-Bäcker heimlich Ware unterm Ladentisch verkauft. Mit ›Theke‹ meint der Bub bestimmt den Ladentisch.«
»Logisch«, erwiderte Max. »Sowieso kassiert der Veit an der Buchhaltung vorbei, wie käm er sonst an Schwarzgeld? Das Rätsel is aber, wo kriegt der Bäcker das Mehl für die Ware zum Schwarzhandeln her? Sooft ich auch prüf, die Rechnung stimmt. Der Veit verbraucht kein Gramm Mehl mehr, als wie in den Erzeugnissen steckt, die er offiziell verkauft.«
»Was das anbelangt«, sagte Wolli, »Mehl kommt Sack um Sack von Frauenmühle – verstohlen.«
»Und wo bitte«, fragte Max, »kommt das Getreide dafür her? In der Mühle rechnen wir doch auch nach: Ein Sack Weizen ergibt ein Sackerl Mehl. Da lässt sich nix tricksen.«
»Was das Korn anbelangt, das liegt im Kinderwagen«, sagte Wolli.
»Gschieht mir recht«, knurrte Max angesichts des sinnlosen Gebrabbels, »hab mich ja einglassen drauf.«
Er wandte sich wieder der Zeitung zu und hörte nicht mehr auf das, was Rita und Wolli noch redeten.
Max las soeben die Meldung, dass in den letzten Apriltagen in Wolfsburg der tausendste Volkswagen seit Kriegsende produziert worden war, da zupfte ihn Rita an dem Hemdärmel, der leer in seinem Hosenbund steckte.
»Max, der Bub hat recht. Die Flüchtling, die ham den ganzen Sommer und Herbst über die restlichen Ähren von den Feldern abgeklaubt. Manche ham sich ausgediente Kinderwagerl verschafft, mit denen sie alles wegkarren, was sie finden. Verstehst, Max? So is das Korn im Kinderwagen an deiner Dienststelle vorbei zur Mühle gfahren.«
»Sakrament«, flüsterte Max beeindruckt.
Es wäre wirklich ein Jammer gewesen, hätte Max Wollis fabelhafte Beobachtungsgabe nicht zu nutzen gewusst. Aber Max war ja nicht dumm.
Täglich nach dem Abendessen besprach er mit Wolli das Dorfleben, und wie erwartet zeigte sich immer deutlicher, dass nicht nur der Bäcker, sondern auch der Metzger, der Schuhmacher und weitere fleißige Mitglieder der Dorfgemeinschaft, manche (der zugegeben etwas unbequemen) Steuervorschriften gelegentlich oder eher regelmäßig umgingen.
Wollis Dienste versetzten Max in die Lage, unerbittlich für die Ahndung derartiger Verstöße sorgen zu können. Er deckte Schwindel für Schwindel auf, verhängte Bußgelder, verschickte gepfefferte Steuerbescheide – alles sehr offiziell. Wie dumm von ihm, könnte dieser oder jener jetzt sagen, sich in der Heimatgemeinde derart unbeliebt zu machen, doch dieser wie jener wäre im Irrtum begriffen. Nichts rang den Neuhausenern mehr Respekt ab als Schläue, die der ihren überlegen war. Zugegeben, Max wurde verflucht, aber mehr noch wurde er geachtet. Bald wehten Vorschüsse, Sonderabgaben, Zuschläge und Nachzahlungen in sein Büro wie Blätter im Novemberwind. Tatsächlich sollte die Steuerbehörde im kommenden Jahr zwanzig Prozent mehr Einnahmen verzeichnen und sich mit einer Beförderung für Max erkenntlich zeigen.
So kam es, dass bald zarte Filetscheiben den sonntäglichen deftigen Schweinebauch ersetzten.
Wolli war für Max (und für die Steuerbehörde) unersetzlich geworden. Aber wie lang, lautete nun die bange Frage, würde der Bub noch Informationen liefern können? Wie lang würde es noch dauern, bis der Suchdienst vom Roten Kreuz Wollis Eltern aufgetrieben hatte? Von heute auf morgen konnte der Bub fort sein, und die Neuhausener konnten neue Täuschungsmanöver ersinnen, die ewig im Verborgenen bleiben würden.
Täglich, stündlich wurden dieser Tage verloren gegangene Kinder ihren Eltern zugeführt; in den Bombennächten, im Chaos danach oder auf Flüchtlingstrecks waren sie abhandengekommen. Diverse Hilfsorganisationen hatten die Versprengten eingesammelt, in Wohnheime einquartiert, registriert und katalogisiert. Auch Wolli hätte, als er mutterseelenallein im Westen ankam, von Amts wegen in ein Heim eingewiesen und vom Suchdienst erfasst werden müssen. Wolli hätte auf den Listen stehen sollen, die in den Zeitungen abgedruckt wurden. Der Name »Wolli Wänig« hätte bereits beim Frühstück ans Ohr des Radiohörers pochen sollen: »Diese Kinder suchen …«
Doch wer könnte dem
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