Der kleine Fluechtling
Frauen aus der Kate brachte. Am Abend bekam er noch mal das Gleiche und am folgenden Morgen auch.
Kaum hatte Wolli sein Frühstück aufgegessen, zerrte ihn der Pole, der ein wenig Deutsch sprach, auf den nun leeren Fuhrwagen.
Verwässerte Grütze gluckerte unangenehm in Wollis Bauch, als das Fuhrwerk durch die Hügel des Glatzer Berglandes rumpelte. Der Pole hielt stur auf die tschechische Grenze zu, passierte sie und brachte das Gefährt erst im Gesenke von Troppau zum Stehen. Er half Wolli herunter, dann führte er ihn in ein Amtszimmer der Meldebehörde.
Der tschechische Beamte begrüßte den Polen jovial; die beiden kannten sich, hatten gemeinsame Verwandte in Langenbielau. Deshalb konnte sich der Pole darauf verlassen, dass der tschechische Amtsträger das Problem »Wolli Wänig« so lösen würde, wie es ihm dienlich war. Vorsorglich tischte er jedoch eine vage Geschichte über die Begegnung mit Wolli auf, für die sich der Tscheche ohnehin nur mäßig interessierte. Seinem Auftrag gemäß würde er dafür sorgen, dass Wolli jenen Weg nahm, den Wollis Volksstamm von Amts wegen bereits seit Monaten ging.
»Alle Deutschen müssen weg, darum auch das Kind«, entschied der Amtsmund.
Der Pole tippte sich zufrieden an die Mützenkrempe, sagte »Do widzenia«, höflichkeitshalber auch noch »Na shledanou« und wandte sich zur Tür. Kaum hatte er die Klinke gedrückt, spürte Wolli, dass auch er dringend verschwinden musste. Nein, nicht zurück nach Polen oder nach Schlesien (was keinen Unterschied mehr machte), sondern zum Abort. Doch bevor er sich irgendwie bemerkbar machen konnte, drängte unverdaute, schleimig-blutige Hafergrütze aus seinem Darm. Das zwickte und peinigte, bis Wolli die Augen verdrehte und zusammensackte.
Der Beamte schickte nach dem Bader, der sich Wolli kurz ansah und dann seinerseits nach der Hebamme von Troppau schickte, mit der er längere Zeit diskutierte. »Das Kind muss abgesondert werden, bis es gesund ist oder tot«, entschied der Amtsmund, nachdem ihm die beiden ihre Diagnose mitgeteilt hatten.
Vermutlich hatte Wolli in der Sandgrube im Vorratslager des Dominium die Shigellen, die ihn nun peinigten, in seinen eigenen Exkrementen gezüchtet. Er konnte sie allerdings auch in der Scheune der polnischen Kate aufgegabelt haben, wo er an verfaulten Vorjahres-Kartoffeln genagt hatte. Wie auch immer, Wolli hatte die Ruhr, und es stand nicht sonderlich gut um ihn.
In desaströser Verfassung steckte Wolli unter einer fadenscheinigen Decke, bekam Kräutersud eingeflößt und hatte nicht einmal die Kraft zu wimmern, wenn sich sein Dickdarm wieder und wieder verkrampfte.
Mitte Juni gaben der Bader und die Hebamme keinen Pfifferling mehr auf Wollis Leben, weil nun Tag und Nacht blutig-eitriger Schleim aus seinem Darm sickerte. Die Hebamme verabreichte Wolli regelmäßig Blutwurztinktur und eine Arznei aus Gänsefingerkraut – nicht weil sie sich davon Heilung versprach, sondern weil sie Wolli das Sterben leichter machen wollte.
Aber Wolli starb nicht.
Anfang August 1945 saß er hohläugig in dem ungefügten Bettgestell, das man ihm gezimmert hatte, und kaute an einem Frühapfel herum.
Im September war er wieder auf den Beinen.
Gewöhnlich tat das Gesenke um Troppau sein Bestes, alle seine Bewohner zu ernähren. Nur in diesem Jahr fehlte es hinten und vorne an Essbarem. Den Ortsansässigen fiel es schwer, ihre Schüsseln zu füllen. Wolli bekam Hafergrütze, allenfalls noch ein trockenes Brot dazu. Das war natürlich nicht die Kost, die ihn schnell gekräftigt hätte. Darum verging der Oktober, bis er die kurze Strecke von der Stube der Hebamme bis zum Weidezaun vor dem Haus schaffte, und es wurde Weihnachten, bis er die Dorfstraße hinunter- und wieder hinauftraben konnte.
Am 1. Februar 1946, zu Lichtmess, befand das Meldeamt Wolli zur Deportation tauglich. Von da an lebte er sechs Wochen lang in Güterzügen.
Wolli besaß nichts als ein gestempeltes und gesiegeltes Papier, ausgestellt von der Administration, das ihn als Wolli Wänig auswies und über die Grenze nach Deutschland beorderte. In der Behördenstube hatten etliche Amtsschreiber darüber diskutiert, ob nicht »Wolfgang« (worauf ihnen die Verniedlichung »Wolli« zu basieren schien) in dem amtlichen Dokument eingetragen werden sollte. Wenigstens der Name müsse doch, so meinten die einen, angemessen lauten, wenn schon sonst keinerlei Angaben über die Person zur Verfügung stünden.
Nein, entgegneten die anderen, wegen
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