Der kleine Fluechtling
bald an weitere hilfreiche Informationen. Benz brachte nicht nur in Erfahrung, wie es möglich gewesen war, Hitlers Dunkelmänner aus den Augen der Besatzer zu schaffen, sondern bekam auch Hinweise, wo es gefälschte Papiere zu beziehen gab. Bald traf aus Coburg ein Päckchen mit Dokumenten für ihn und seine Schützlinge ein.
Insgesamt dauerte es keine vier Wochen, bis seine tapferen Kämpen, mit gefälschten Entlassungsscheinen in den Händen und dem Kyffhäuser-Kameraden-Schwur im Herzen, davoneilen konnten – zurück an einen heimischen Herd, wo auch immer der sich befand.
Für Wollis Erzeuger befand sich nirgends einer, deshalb musste er dringend einen erfinden. Während er darüber nachgrübelte, wohin jener heimische Herd sich platzieren ließe, kam ihm Minna in den Sinn.
Im Lager Majdanek hatte Wollis Erzeuger in einem Kabüffchen hinter der Schreibstube, zwischen verstaubten Lagerlisten und vergilbten Lieferscheinen, regelmäßig eine Bürokraft beglückt, die sich – und das erstaunte Wollis Erzeuger selbst – haltlos in ihn verknallt hatte.
Schwer zu sagen, was sie an ihm fand.
Zugegeben, Wollis Erzeuger war während der Kriegsjahre auf stattliche eins fünfundneunzig in die Höhe geschossen, er hatte rechtsseitig – am Schlagarm – einen ansehnlichen Bizeps, und er kam stets schneidig daher: blanke Wehrmachtsstiefel, gestärktes schwarzes Hemd, gewichste Lederkoppel.
Aber kein Mensch bei klarem Verstand hätte sich durch seinen akkurat gezogenen Seitenscheitel von den rastlosen Pupillen ablenken lassen. Pupillen, die hin und her und auf und ab flitzten wie Elritzen, wenn die Kaulbarsche kommen, und die sich keine Sekunde lang ruhig und rechtschaffen ins Auge ihres Gegenübers versenken konnten. Kein Mensch mit klarem Blick hätte sich von eineinhalb Zentimeter langen gelackten Schnurrbarthaaren über eine spitz zulaufende Mundpartie hinwegtäuschen lassen, die weit über die Nase hinausragte und in einem Überbiss mit nahezu horizontal eingebetteten Schneidezähnen endete.
Minna aber war augenscheinlich weder durch die offensichtliche Verderbtheit noch durch die Nager-Physiognomie ihres Liebhabers abgeschreckt worden, und dafür gab es nur eine einzige fassbare Erklärung: Minna war Wollis Erzeuger verfallen, weil er sich in ihren Armen in einen Säugling verwandelte – in Minnas eigenes schutzbedürftiges Kindchen.
So hart Wollis Erzeuger auf die Köpfe von Gefangenen prügeln, in die Rippen der Häftlinge knüppeln konnte, so wehleidig schluchzte er auf, sobald ein Holzspänchen in seinen Daumen stach oder ein Steinchen auf seinen Zehennagel prallte. Heiße Tränen schossen ihm dann in die unsteten Augen, und er schmachtete nach Trost und Zuflucht.
Und Minna liebte es, ihm beides zu geben.
Von Jugend an üppig, weich und fleischig, fühlte sie sich in ihrem Element schlechthin, wenn sie Wollis Erzeuger in sich hineinbetten durfte wie eine Handvoll Himbeeren in rote Grütze.
Im Januar 1944 aber wurde Minna von Wollis Erzeuger getrennt. Ein letztes Mal schmiegte sie ihren vorstehenden Unterkiefer an seinen Überbiss und schloss sich dann einer Gruppe von Frauen an, die im Bahnwaggon nach Westen reisen sollte. Und schon während der Fahrt schrieb sie den ersten sehnsuchtsvollen Brief an Wollis Erzeuger, dem im Laufe der kommenden Wochen Dutzende folgen sollten. Wollis Erzeuger, zu jener Zeit noch in Majdanek stationiert, beantwortete keinen Einzigen davon.
Doch exakt jene Briefe waren es, die ihn auf einen vielversprechenden Einfall brachten, als er nach einem Nest Ausschau hielt, in das er sich setzen konnte. Die Briefe würden ihm den Weg dorthin weisen. Sie mussten sich nur finden – einer wenigstens. Aber Wollis Erzeuger wusste, wo er danach suchen konnte.
Minna hatte seine Schuhe, wenn sie tagsüber nass geworden waren, im Lager oft mit altem Papier ausgestopft, das die Feuchtigkeit aufsaugen sollte, und er hatte zugeben müssen, dass die Methode wirkte. Deshalb hatte er es nach ihrer Abreise aus Majdanek manchmal selbst so gemacht. Aus einer Laune heraus hatte er irgendwann damit begonnen, Minnas Briefe dafür zu verwenden. Später, als er Majdanek verließ, hatte er dann die beiden Papierknäuel in seinen Tornister gepackt, um sie zur Hand zu haben, falls es unterwegs tagelang regnen sollte. Und da mussten sie sich eigentlich immer noch befinden.
Tatsächlich förderte Wollis Erzeuger nach einigem Wühlen zwei platt gedrückte Bündel aus Papierfetzen zutage. Seine Hoffnung auf
Weitere Kostenlose Bücher