Der kleine Fluechtling
leserliche Zeilen sank jedoch, als er merkte, dass alles von grünlichem Schimmel überzogen war. Akribisch begann er, die Schnipsel zu glätten, zu säubern und zu durchforsten. Die Mühe lohnte sich. So mitgenommen jene Fetzen auch waren, die maßgebliche Information, auf die Wollis Erzeuger scharf war, gaben sie noch her.
»Ich bin schwanger«, hatte Minna im April 1944 geschrieben, drei Monate nachdem sie Wollis Erzeuger aus den Augen gekommen war.
»Mir und dem Kind geht es gut«, hatte sie im Juni 1944 berichtet.
Kurz bevor Majdanek geräumt worden war, im Juli 1944, hatte Minna dann noch eine Information geliefert, die sich nun im wahrsten Sinne des Wortes als richtungweisend zeigte.
»Wegen dem Kind, das im Oktober auf die Welt kommt«, schrieb sie, »werde ich bald aus der Dienstverpflichtung entlassen. Dann gehe ich auf den Bauernhof von meinen Eltern zurück.«
Darunter war ein Lageplan gezeichnet. Den elterlichen Hof hatte Minna mit einem roten Pfeil markiert.
»Niederbayern!«, begeisterte sich der ehemalige HSSPF Benz. »Hinterster Bayerischer Wald, Jungchen, da machste rieber, da stehste gut.«
Benz und Wollis Erzeuger steckten ihre Nasen in die Generalstabskarte und mussten erkennen, dass zwischen Kyffhäuser und den Bayerwaldbergen ein weiter Weg lag. Wollis Erzeuger würde sich an Unstrut und Saale entlangschleichen müssen bis in den Thüringer Wald hinein. Er würde durch den Frankenwald ins Fichtelgebirge huschen müssen, durch den Steinwald in den Oberpfälzer Wald, dort den Pfahl entlang in den Bayerischen Wald, wo Arber und Rachel den Weg zum Lusen blockierten. An den steilen Westhängen des Lusen sollten endlich, gemäß Minnas Botschaft, die vereinzelten Gehöfte des Ortes Waldhäuser kleben. In einem davon, hieß es im Postskriptum des letzten Briefes, würde Minna sehnsüchtig auf ihren Geliebten warten.
»Jungchen, da kommste nich hin ohne Ferd un Wagn.«
Wohl nicht, aber ein Fuhrwerk samt Gaul musste ja aufzutreiben sein.
Also machte sich Wollis Erzeuger in der goldenen Aue auf die Suche nach einem Acker, der noch nicht ganz gepflügt war. Als er einen gefunden hatte, holte er Benz zu Hilfe, und die beiden legten sich am Rand des Feldes, dort wo der Bauer beim Pflügen seinen Gaul zügeln musste, auf die Lauer.
Sobald das Gespann zum Stehen kam, schlug Wollis Erzeuger mit einem Feldspaten zu. Der Bauer fiel blutend in die Furche. Benz schirrte das Pferd aus.
»Machste hastig wech hier, bevor ihn eener findet«, riet er.
Wollis Erzeuger umarmte seinen Mentor zum Abschied mit Tränen in den Augen. Dann führte er das Pferd eilig zu dem Deichselwagen, den Benz akquiriert hatte, spannte es ein, und im nächsten Augenblick war er schon unterwegs ins bayerische Waldgebirge.
4
Im späten Frühjahr 1945 rumpelte Wollis Erzeuger auf seinem Fuhrwerk von Grafenau herkommend durch den Marktflecken St. Oswald.
Aus der Bründlkapelle schallte vielstimmig »Maria breit den Mantel aus«, obwohl der Marienmonat längst vergangen war. Es ging bereits auf Sonnwend zu. Unberührt vom dissonant-inbrünstigen Flehen um »Schirm und Schild« zog das Kyffhäuser-Pferd an der wundertätig sprudelnden Quelle neben der Kapelle vorbei.
Der Gaul trottete, seit Wochen nichts anderes gewohnt, unverdrossen auf dem Schotterweg dahin. Er ließ sich gehorsam am Gottesacker entlanglenken und hielt, wie der Pfad es vorschrieb, auf den Waldrand zu. Dann dauerte es keine halbe Stunde mehr, bis er ein endgültig klingendes »Brrr« zu hören bekam. Wollis Erzeuger befand sich am Ziel.
Er peilte blinzelnd den Sonnenstand an, drehte und wendete Minnas Skizze, versuchte sich zu orientieren. Das Terrain, das sie auf der Zeichnung rot markiert hatte, schien sich östlich der Birke zu erstrecken, an die er sein Pferd gebunden hatte. Er stelzte auf eine Lichtung zu.
Hinter einem verkrüppelten, verknorzten Apfelbaum, den Wind und Wetter in die Schräge gezwungen hatten, erspähte Wollis Erzeuger eine offen stehende Haustür. Er erreichte sie mit wenigen Schritten, blieb davor stehen und lauschte. Nichts regte sich. Da schob er sich kurzerhand unter dem Türstock hindurch.
Drinnen im Halbdunkel konnte er im ersten Moment rein gar nichts erkennen. Er sah weder Minnas Vater am Tisch sitzen, noch nahm er Minnas schlafendes Kind in der Holzkiste wahr.
Wollis Erzeuger rieb sich die Augen. Kaum hatte sich sein Blick geschärft, blieb er an einem angeschnittenen Laib Brot haften, neben dem ein Tiegel mit Rübensirup
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