Der kleine Fluechtling
eines unmündigen Irrläufers dürfe man nicht die Administration entwesen, deren Sinn und Zweck ja genau darin liege, buchstabengetreu zu arbeiten.
»Es hat bei ›Wolli‹ zu bleiben«, entschied der Amtsvorstand mit Nachdruck.
Diverse Züge dampften also mit Wolli im Bauch von Troppau nach Prag, von Prag nach Pilsen, von Pilsen nach Klattau, von Klattau nach Eisenstein. Dort passierte Wolli Ende März ’46 die Grenze und wurde sodann erneut in eine Amtsstube geführt. Zum ersten Mal seit Langem hörte er wieder flüssig gesprochene deutsche Worte. Sie lauteten: »Was das anbelangt.«
»Was das anbelangt«, sagte der deutsche Beamte, »ist es am besten, ihn gleich weiterzuschleusen.« Wenig später fand sich Wolli auf einem dahinholpernden Lastwagen wieder. Die Motorgeräusche skandierten Stunde um Stunde: was das anbelangt.
Als er zwei Tage später durch Maxens Wohnungstür stolperte, hatte er keine Ahnung, dass er ein für alle Mal am Ziel war.
Auf dem Weg von Habendorf nach Neuhausen (fünfhundert Kilometer weit und zwölf Monate lang) hatte Wolli das Kuschen gelernt, das Stillhalten, das Abwarten, das Hinhören. Das Ausspionieren und das Herumschnüffeln hatte er schon vorher gekonnt. Vereint sollten die neuen und alten Qualitäten Wolli Wänig für Max unentbehrlich machen.
3
Die ersten Tage im hübschen Heim von Max und Rita verbrachte Wolli wie gesagt auf seiner Matratze, eingerollt wie ein trockenes Birkenblättchen und ohne ein einziges Wort zu sprechen.
Rita hegte Wolli mit der gleichen Fürsorge, wie sie ihre Kohlköpfe und ihre Radieschen betreute. Behutsam päppelte sie ihn auf, mit guter Butter und frischer Sahne vom Himmelberghof.
In Wollis Mausgesicht rundeten sich die Backen. Seine Schultern strafften sich, und sein Bäuchlein ließ eine kleine Wölbung erkennen. Mitte April traute er sich erstmals vor die Haustür und schnüffelte schweigend eine Weile draußen herum. Im Mai erweiterte er seinen Radius bis vor die Türen der Neuhausener. Am Muttertag lieferte er die erste einer endlosen Reihe unbezahlbarer Informationen.
Was könnte für einen Beamten der Abgabenstelle nützlicher sein als penibel zusammengetragene Meldungen über die irdischen Güter und Besitztümer seiner Klienten, zu denen in Maxens Fall sämtliche Neuhausener zählten, deren Einkommen über einer gewissen Grenze lag oder nach allem Dafürhalten liegen musste? Was könnte einem Steuerinspekteur mehr zugutekommen als zuverlässige Kunde über Umsatz und Gewinn der Geschäftsleute in seinem Sprengel?
Wolli konnte damit aufwarten. Und am Muttertag ließ er beim Mittagessen die Katze aus dem Sack.
»Es is zum Aus-der-Haut-Fahrn mit den frechdreisten Neuhausenern«, hatte Max über seiner zweiten Portion Schweinebauch mit Knödel gewettert. »Jeder mauschelt und schachert, und alles verschwind, als hätt keiner nix. Wie kann denn der Neuhausener Bäcker zu einer erstklassigen neuen Schaufensterscheiben gekommen sein, vorige Woch, wenn er gar nix einnimmt in seiner Bäckerei? Das wenn mir einer erklärn tät …«
Wolli mampfte stumm ein Knödelbröckchen, schluckte, schob ein Karottenscheibchen nach, schluckte wieder, hob den Blick und sagte: »Was das anbelangt, u-Tee!«
Rita schreckte auf, als hätte ihr Blumenkohl gehustet.
Maxens Beamtengehör siebte anscheinend selbsttätig aus, was nicht sein konnte, weil es nie so gewesen war, denn er aß ungerührt weiter.
Erst als Rita nach dem Essen bereits das Geschirr abtrocknete, ging ihm auf, dass Wolli gesprochen hatte. Er sah von der Zeitung hoch, die ausgebreitet auf dem Küchentisch lag, und murmelte:
»Wollt uns der Bub was sagen?«
»Ich mein sogar«, gab Rita zur Antwort, »der wollt uns was Wichtiges sagen. Was über den Veit-Bäcker.«
»Geh, was könnt denn der Bub über den Veit-Bäcker wissen? Über unseren verlogenen Neuhausener Bäcker, der dem Steueramt einen Batzen Geld unterschlagt. Das weiß ich, weil von dem, was er angeblich einnimmt, könnt er sich keine Extravaganzen leisten. Ich tät wirklich gern rauskriegen, wie er’s macht. Wenn er nicht so schlau wär, der Veit-Bäcker, dann wüsst ich’s schon. Aber der Veit-Bäcker is ein Schlawiner. Wie sollt der Bub so einem auf die Machenschaften kommen? Was hat er gsagt, der Bub?«
»U-Tee«, erinnerte sich Rita.
»U-Tee«, echote Max. »Das is Böhmisch, wenns überhaupt was bedeut.«
»Unter Theke vakoofta – was das anbelangt«, kam es da erklärend von Wolli, der in der Küchentür
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